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Durchsetzungs-Initiative: Wer investiert in einem Land mit solchen Cowboy-Paragrafen? (E-Maildebatte in der NZZ a.S.)

E-Maildebatte, publiziert in der NZZ a.S. vom 3.Januar 2016

 

Neue Töne im neuen Jahr – Jacqueline Badran und Christian Wasserfallen sind sich einig wie nie: Die Durchsetzungsinitiative stellt eine Gefahr für die Schweiz dar

«Wer investiert in einem Land mit solchen Cowboy-Paragrafen?»

Die E-Mail-Debatte

Jacqueline Badran

Fangen wir doch das neue Jahr gemeinsam in Eintracht – also konkordant – an. Wir haben einige Abstimmungen vor uns. Bei der sogenannten Durchsetzungsinitiative, die eigentlich Verschärfungs- oder Rechtsstaatsabschaffungsinitiative heissen sollte, sind wir wohl beide klar für ein Nein, so wie alle, die noch einen Funken Gerechtigkeitsgefühl in sich haben. Diese Mogelpackung ist ein demokratisches Unding und handwerklicher Polit-Pfusch. Was meinen Sie?

Christian Wasserfallen

Ja, diese Initiative ist ein Fremdkörper in einem Rechtsstaat. Und in einem der besten Rechtsstaaten der Welt – der Schweiz – ein Angriff, den man mit allen Mitteln abwehren muss. Wer dieser Initiative zustimmt, degradiert alle Ausländer in unserem Land zu Menschen zweiter Klasse. Egal, ob es der seit Jahren hier forschende Wissenschafter oder die Arbeitskollegen im Spital oder im Büro sind. Mit Annahme dieser Initiative werden bei Bagatelldelikten restlos alle automatisch ausgeschafft – ohne Einzelfallprüfung. Dagegen müssen wir uns wehren, was selbst einige Repräsentanten der SVP merken.

Jacqueline Badran

Sie sagen es. Wir haben ein fein austariertes System von Gewaltenteilung und -trennung, in dem Volk, Parlament, Regierung und Justiz je ihre Rolle, Aufgabe und Kompetenzen haben. Sinn des Ganzen ist, dass unter keinen Umständen jemand in der Schweiz allein die Macht haben soll. Auch die Stimmbevölkerung nicht, da gibt es Grenzen, die uns unsere Verfassung vorschreibt. Wir wollen keine schrankenlose Diktatur der Mehrheit. Und das ist sehr gut so. Die Durchsetzungsinitiative bringt erstmals direkt anwendbares Verfassungsrecht und gibt damit einer Volksmehrheit die alleinige Macht. Das ist systemwidrig. Nicht nur die Gerichte werden ausgeschaltet, sondern auch das Parlament, das seine Aufgabe, Volksabstimmungen verfassungskonform in Gesetze umzugiessen, nicht mehr erfüllen kann. Diese Rolle ist umso wichtiger, weil wir keine Verfassungsgerichtsbarkeit haben. Die Ausschaffungsinitiative konnten wir noch ganz knapp rechtsstaatlich umsetzen dank der Härtefallklausel – übrigens unter Berücksichtigung des Deliktekatalogs der Durchsetzungsinitiative. Aber die Verschärfungsinitiative ist in sich nicht verfassungskonform und bricht damit mit unseren demokratischen Traditionen und dem Rechtsstaat.

Christian Wasserfallen

Tatsache ist, dass das Parlament fristgerecht eine Umsetzungsgesetzgebung zur Ausschaffungsinitiative verabschiedet hat, die sich an den Rechtsstaat hält. Ein Referendum dagegen gab es nicht. Damit ist klar, dass diese Abstimmung absolut unnötig ist. Ein Beispiel für die verheerenden Konsequenzen der Durchsetzungsinitiative: Ein ausländisches Ehepaar – er Manager bei einer Versicherung, sie Ärztin -, beide bekommen Kinderzulagen, weil der Buchhalter der Ärztepraxis einen Fehler gemacht hat. Das Paar bemerkt das erst viel später, weil es unser System nicht richtig verstanden hat. Die Ärztin müsste automatisch ausgeschafft werden. Das ist absolut unverhältnismässig. Sie würde in den gleichen Topf geworfen wie Mörder und Vergewaltiger. Das geht gar nicht in einem modernen Land.

Jacqueline Badran

Oder ein Secondo, 18-jährig, kurz vor der Berufsmatur in einer Hochbauzeichnerlehre, bricht auf Gruppendruck mit seinen Kumpels am Samstagabend in den Kiosk der Badi ein. Sie stehlen ein paar Bier. Der junge Erwachsene bekommt am nächsten Tag ein schlechtes Gewissen und beichtet es seinen Eltern. Diese verlangen, dass er sich sofort der Polizei stellt, was der Sohn auch tut. Er entschuldigt sich bei der Badi und offeriert, dass er den Schaden aus seinem Lehrlingslohn voll bezahlt. Auch er würde automatisch ausgeschafft. Übrigens: jemand, der sich des Steuerbetrugs und der Geldwäscherei schuldig macht, hingegen nicht! Niemand würde wollen, dass so etwas seinem eigenen Sohn angetan wird. Das widerspricht jedem Gerechtigkeitsgefühl. Was man nicht will, das einem selber angetan wird, sollte man anderen auch nicht antun. Die Durchsetzungsinitiative verletzt selbst diese goldene Regel. Die Einzellfallprüfung und das Verhätnismässigkeitsprinzip sind Kernelemente in jedem Rechtsstaat.

Christian Wasserfallen

Genau: Die Initiative schadet letztlich dem guten Ruf der Schweiz als Land mit hoher Rechtssicherheit und schafft weiteres Potenzial für einen Konflikt mit der EU in den Verhandlungen über die Begrenzung der Zuwanderung. Beides braucht die Schweiz nicht, und das ist Gift für uns selber. Wer investiert in einem Land, das solche Cowboy-Paragrafen in der Verfassung stehen hat? Sicher keine internationale Unternehmung. Unsere Alleinstellungsmerkmale sind die direkte Demokratie und unser feiner Rechtsstaat – und nicht das Gegenteil. Das soll so bleiben.

Jacqueline Badran

Die Motivation der SVP ist natürlich, Chaos zu stiften, weil sie genau weiss, dass die Initiative mit den Grundrechten konfligiert. Es wird zu einer Flut von Klagen kommen, und niemand weiss, was gilt. Die Kantone befürchten deswegen massive Kostenfolgen. Und wofür das alles? Gibt es einen echt Kriminellen weniger in der Schweiz? Nein. Es geht darum, dass die SVP diese selbstgeschaffenen Probleme bewirtschaften kann, mit dem Finger auf die Richter zeigen und sagen wird: Seht her – wir müssen eben die EMRK künden. Das ist unredlich.

Christian Wasserfallen

Die Durchsetzungsinitiative untergräbt das Vertrauen der Bevölkerung in unsere Institutionen, indem sie das Parlament ausschaltet und der Justiz das Vertrauen entzieht. Ein kräftiges Nein zur Initiative bedeutet also ein deutliches Ja zu unseren Institutionen.