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Zum Brexit (E-Mail-Debatte in der NZZ a.S.)

Die E-Mail-Debatte
publiziert in der NZZ a.S. vom 3.7.2016
«Das Kapital hat zu den Menschen zu fliessen – nicht umgekehrt»

Jacqueline Badran

Werter Herr Rutz. Über die Folgen des Brexit wurde wie wild spekuliert, vor und nach der Abstimmung. Egal wie man es sieht – der Brexit wird massive Auswirkungen haben auf die Weltwirtschaft, auf die EU und die Schweiz. Sicher ist aber auch: Es öffnen sich Zeitfenster für Reformen, neue Möglichkeiten. Ich bin der Überzeugung, dass die EU und wir diese erkennen und nutzen müssen.

Gregor Rutz

Geschätzte Frau Badran: Spekuliert wurde vor allem vorher. Und geschwindelt. Die Europäische Union vermittelt seit Jahren Verunsicherung statt Stabilität. Die Einheitswährung hat sich als gefährliches und teures Experiment erwiesen. Dass Volksentscheide – etwa das Nein zur EU-Verfassung in den Niederlanden und Frankreich – ignoriert werden, zeigt die Abgehobenheit der EU-Bürokraten. Das Votum des Vereinigten Königreichs ist da gleichsam ein Befreiungsschlag: Es ist wichtig, dass die Politiker ihre Verantwortung wieder wahrnehmen – und zwar für ihr eigenes Land. Wo jeder für alles, aber niemand für etwas Konkretes verantwortlich ist, kommt es nie gut heraus. Dass in der Schweiz trotz diesem Entscheid der Briten weiter über eine institutionelle Einbindung nachgedacht wird, ist bedenklich.

Jacqueline Badran

Sie wollen, dass Politiker wieder Verantwortung wahrnehmen? Bravo! Aber wieso treten Sie dann seit Jahren die Verantwortung ans anonyme Kapital ab? Sie tun immer so, als ob wir von Brüssel erpresst würden. Schauen Sie sich doch einmal unsere politischen Entscheide an. Sämtliche Steuerreformen dienten einzig der Gewinnmehrung von Konzernen; zusätzliche leistungsfreie Gewinne nota bene, finanziert durch die normalen Leute mit ihren Einkommenssteuern. «Wenn ihr nicht legiferiert, wie wir wollen, dann gehen wir», so die globalen Konzerne. Und Sie machen den Bückling. Sie begrüssen auch das transatlantische Handelsabkommen zwischen den USA und der EU (TTIP), das Konzernen Klagerechte einräumt wegen entgangener Gewinne aufgrund nationaler Gesetze. Das würde die Übernahme der Demokratie durch eine Konzernoligarchie bedeuten. Merken Sie eigentlich, dass Sie ständig mehr Autonomie abgeben und dabei vorgeben, es gehe um «Selbstbestimmung»? Mir macht Sorgen, dass England nach dem Brexit seine Offshore-Tätigkeit verstärkt und der erpresserische Druck der Konzerne auf uns noch zunehmen wird.

Gregor Rutz

Zu meinen, in einem bürokratischen Gebilde wie der heutigen EU könne Verantwortung wahrgenommen werden, ist eine Illusion. Darum staune ich immer wieder über Sozialdemokraten, welche einen EU-Beitritt ernsthaft befürworten. Die EU-Funktionäre handeln fernab der Bevölkerung und sind demokratisch weder legitimiert noch kontrolliert. Genau dies haben die Briten gemerkt. Sie wollten ihre Unabhängigkeit zurückgewinnen, um die Demokratie zu stärken und ihre Verantwortung wahrnehmen zu können. Darum ging es bei diesem Volksentscheid.

Jacqueline Badran

Ich gebe Ihnen recht, dass politische Verantwortung und Demokratie zunehmend zu einem Theater verkommen sind. Manchmal kommt es mir vor, als ob auch wir hier Demokratie nur spielen. Die EU hat sowieso ein eklatantes Demokratiedefizit, ist autokratisch und betreibt eine extrem neoliberale Wirtschaftspolitik. Das bestreitet niemand. Aber genau in Brüssel sieht man, wie ohnmächtig die Politik generell geworden ist. Eine Finanzmarktkrise, Währungsspekulationen, globale Steuervermeidung sind viel wirkungsmächtiger, als es die Politik je sein könnte. Wir vollziehen die Logik der Finanzmärkte nach, die – es gibt da nicht einmal einen Aufschrei – 15 Prozent Eigenkapitalrendite «erwarten» dürfen. Wenn dies nicht eintritt, «reagieren die Märkte enttäuscht». Es ist, als ob man dem Finanzmarkt eine Seele gegeben hätte. Das ist genau das, was die Briten und viele Verlierer der Globalisierung spüren: Kontrollverlust. Nationalkonservative Politiker wie Sie geben dann den vielen Zuwanderern die Schuld. Dabei ist es doch Ihre Politik des Anlockens von Konzernzentralen und die damit verbundene Kapitalakkumulation an wenigen Standorten, die Menschen zu mobilen Einheiten des Humankapitals degradiert, die dem Kapital hinterherwandern müssen. Wir, die EU und Grossbritannien sind willfährige Statisten in diesem System, das wenige Gewinner und viele Verlierer produziert. Hier muss die Reform ansetzen: mehr Demokratie, flexiblere Lösungen für die Besonderheiten der Länder und weniger Neoliberalismus. Der freie Kapital- und Personenverkehr muss weniger dogmatisch gestaltet werden. Das Kapital hat zu den Menschen zu fliessen – nicht umgekehrt.

Gregor Rutz

Das ist jetzt aber etwas viel Kraut und Rüben. Von neoliberal merke ich bei dieser Bürokratieflut wenig – aber immerhin sind wir uns bezüglich des Demokratiedefizits einig. Doch eines nach dem anderen. Der britische Entscheid führt uns vor Augen, dass Internationalisierungsträume eine kurze Halbwertszeit haben. Für wirtschaftliche Prosperität sind politische Stabilität und Rechtssicherheit von zentraler Bedeutung. Dies gewährleistet ein demokratischer Staat, welcher die Rechte und Freiheiten von Bürgern und Gliedstaaten respektiert, am besten. Damit die Behörden diese Verantwortung wahrnehmen können, ist es wichtig, den jeweiligen Verantwortungsbereich klar zu umreissen. Dies ist bei der EU nicht der Fall: Die Union reisst zwar immer mehr Zuständigkeiten an sich – aber verantwortlich ist im konkreten Fall dann doch niemand. Genau darum war der englische Entscheid richtig. Und nur so kann man die von Ihnen genannten Probleme auch lösen. Das müssten Sie bei Gelegenheit auch einmal Ihrer Parteileitung erklären.