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Neofeudalismus Teil 2: Der Zerfall der Werte

Neofeudalismus: Der Klassenkampf von oben – Teil 2

VON JACQUELINE BADRAN, publiziert im PS vom 24. Juli 2008

Der Zerfall der Werte –
am Beispiel der Vergabe der Villa Winkelwiese im Baurecht

Die Vergabe im Baurecht der Villa Winkelwiese in der Zürcher Altstadt an einen Milliardär durch die Stadt Zürich ist exemplarisch.
Geplant ist ein Neubau mit 940m2 Wohnfläche, plus 400 m2 Wellness-Zone im Untergeschoss, plus ein zweites Swimmingpool im Dachgeschoss, sowie Garagen für 12 Limousinen. Dazu ein grosser Park – wohl die grösste Gartenanlage in der Altstadt. Dies für zwei Personen (plus Bediensteten Ehepaar in einer nordseitigen Einlegerwohnung). Dies in unserem extrem dichten und kleinräumigen «Dörfli», wo sonst weit und breit nur Mehrfamilienhäuser eng aneinander stehen.

So nicht!
Mir – und mit mir fast die ganze Linke Ratsseite – hats den Nuggi rausgehauen. So eine Prozerei war uns zu viel, so ein Zeichen – Superreiche der Welt kommt doch alle hierher – wollten wir nicht für Zürich auf städtischem Boden. Der Milliardär, Erbe aus der deutschen Chemie, hatte sich deshalb einen Lobbyisten genommen, der Gemeinderäte zum Kaffee eingeladen hat. Und tatsächlich – er konnte einige umstimmen, so dass wir im Rat die Abstimmung der Vergabe im Baurecht ganz knapp verloren hatten (Ja – das Referendum steht). Der eine Linke – ein ehemaliges AL-Fraktionsmitglied – der mit dem Lobbyisten Kaffee getrunken hatte, war nach dem Treffen der Überzeugung, dass er nur dagegen sei, weil Neid ihn regieren würde. Da er aber kein Neid empfinden wolle, würde er zustimmen. Im persönlichen Gespräch meinte er, Reiche seien Reiche, ob es ein «bisschen mehr» sei, spiele doch keine Rolle. Die Reichen hätten schon immer am Zürichberg in Villen gelebt während die Kleinen unten in engen Wohnungen drängeln mussten. Diese Meinung hatte ich verschiedentlich auch von GenossInnen gehört.

Emotional und auf die Schnelle kann ich das sogar irgendwie nachvollziehen. Faktisch kann ich dem aber keinesfalls zustimmen.

«Neiddebatte»?
Eigentlich wollte ich an dieser Stelle die Winkelwiese als kleines Beispiel nehmen, um dann aufzuzeigen wie sich gewisse Super-Reiche von heute fundamental von den Reichen von früher unterscheiden, um dann zu Beispielen überzugehen, wie heutzutage die Umverteilung von unten nach oben funktioniert. Den Artikel hatte ich bereits vor Wochen geschrieben, noch vor der Delegiertenversammlung der SP zur Parolenfassung zum Winkelwiesenreferendum vor zwei Wochen. Dort jedoch hat ein Genosse ein Votum gehalten und meinte, er würde an dieser SVP-mässigen «Neiddebatte» nicht teilnehmen wollen und würde für die Vergabe der Winkelwiese an Herrn Binder stimmen.

Das hat mich derart erzürnt, dass ich mich gezwungen sehe, diese exemplarische Geschichte doch noch zu vertiefen.

Die Argumente der Gegnerschaft aus SP, Grünen und AL als eine «Neidbebatte» zu etikettieren geht entschieden zu weit und ist ohne jede Grundlage. Genau dies haben FDP und SVP im Gemeinderat auch getan.
Wieso sollte man auf so etwas neidisch sein? Ich persönlich empfinde in keiner Faser meines Daseins Neid. Ganz im Gegenteil. Ich habe bereits ein schlechtes Gewissen, weil ich seit bald zwei Jahren wesentlich mehr als ein WG-Zimmer wie bislang zum wohnen habe. Ich würde ohne zögern behaupten, es gibt kaum Linke, die ernsthaft neidisch sind. Die Empfindung ist doch viel mehr befremdetes Kopfschütteln, abgestossen von der absurden Vorstellung einer 400 m2 grossen privaten Wellnesszone mitten in der Altstadt. Vielleicht ein leichtes Gefühl von Distanziertheit angesichts der egoistischen Masslosigkeit der Bedürfnisse eines Einzelnen. Oder ein Unbehagen gegenüber dem ungewohnten Protz. Ist es nicht vielmehr die Fassungslosigkeit gegenüber dem, dass jemand so dreist ist, so ein Bauwerk überhaupt in unserem «Dörfli» zu wollen? Ich bin zudem überzeugt, man würde ihm so ein Anwesen in Herrliberg oder auf dem Lande von Herzen gönnen, aber auf städtischem Land in der Altstadt? Nein, das Bauvorhaben zeugt von derartiger Stil- und Geschmacklosigkeit, dass es weit in gutbetuchte Kreise für Ablehnung sorgt. Sonst hätten nicht nachweislich so viele Bürgerliche Petition und Referendum unterschrieben.

Mass-, Scham- und Geschmacklosigkeit
Diese (üblicherweise von FDP und SVP) ständig und schnell herbei zitierte Schublade der «Neiddebatte», lenkt aber vor allem auf stossende Weise vom wahren Kern der Sache ab.
Sind es nicht die entfesselte Gier, die zelebrierte Masslosigkeit, die entthronte Bescheidenheit, die unseren Zeitgeist prägen? Sind es nicht diese Entwicklungen, die in uns Unbehagen auslösen und die wir eigentlich nicht möchten? Was empört uns, wenn wir Linken an «Abzockermanager», sagenhafte Gewinne oder eben das Bauvorhaben an der Winkelwiese denken und wir «halt – so nicht» sagen? Sind es nicht sich auflösende kulturelle Übereinkünfte, ein Zerfall ethischer Gemeinsamkeiten?

Der Kern der Sache ist, dass die fundamentalen Werte zerfallen, die für das Funktionieren einer liberalen, freien und gerechten Gesellschaft absolut notwendig sind. Es sind Werte oder etwas antiquiert formuliert Tugenden, wie Bescheidenheit, Demut, Gemeinschaftssinn, Selbstbeschränkung und Verantwortung. Diese sind derart entrückt, dass man deren Abwesenheit nicht einmal rügen darf, ohne sich dem Vorwurf des Neides auszusetzen.

Argumentiert wurde auch von GenossInnen, dass es eigentlich egal sei, ob nun ein Herr Binder für sich und seine Partnerin alleine eine Riesenresidenz baue, oder ob das Areal an der Winkelwiese mit einem Mehrfamilienhaus mit vier Wohnungen – klar auch im Luxussegment – bebaut wird. So waren nämlich die anderen eingereichten Projektvorhaben. Schliesslich bekäme man ja keine Sozialwohnungen. Auch dieses Argument weise ich entschieden zurück. Es ist nämlich ein fundamentaler Unterschied, die sowohl mit der Spanne von «Oben» und «Unten» zu tun hat, als auch vor allem mit einer Werthaltung.

Die «Reichen am Zürichberg, die schon immer in Villen gewohnt haben» waren Anwälte, Bankiers, Ärzte, Eigentümer von mittelständischen Unternehmungen; sie erzielten Jahreseinkommen, die etwa 4-8 mal höher waren als die untersten Einkommen. In der Regel verdienten sie ihr Geld mit Arbeit und hinter dem unternehmerischen Einkommen stand eine reale Produktion oder Dienstleistung, also eine volkswirtschaftliche Leistung und Wertschöpfung. Immobilien und Aktien hatte man als Wertanlage, nicht als Ertragsanlage. Dieses Bildungsbürgertum hatte ein Bewusstsein über seine Privilegien und wusste, dass es ihren Status auch dem Glück und nicht nur der Leistung zu verdanken hatte. Die darunterliegende Wertebasis waren Mass und eine Form von Bescheidenheit und Selbstbeschränkung. Gier und Masslosigkeit galt als höchst unanständig.

Mehr als ein Mythos
Ich bin restlos überzeugt, dass dies eine völlig verklärte Sichtweise der Verhältnisse ist. Mit Sicherheit gab es skrupellose Abzocker ohne einen deut von moralischen Hemmungen. Sicher schanzte man sich unter Seinesgleichen Jobs und Aufträge zu. Sicher gab es auch Leute, die sich als «etwas Besseres» sahen.

Ein Mythos ist es dennoch nicht. Denn ich habe es erlebt wie es war, im Zürichberg aufzuwachsen umzingelt von dem FDP-wählenden Bildungsbürgertum. Niemand wurde je mit dem Auto in die Schule gebracht. Man war der egalitär geprägten Überzeugung, alle sollten gleichermassen zu Fuss gehen. Bei der Schülerreise hatten aus dem gleichen Grund alle dasselbe im Rucksack. Viele hatten Häuser; aber es war klar, dass man damit kein Geld verdient und nur die Kosten deckt; es war eine Wertanlage. Man verdiente Geld mit Arbeit nicht mit «Haben». Alles andere galt als höchst unanständig. Ich habe mehrmals erlebt, wie Anwälte Mandate von mittelosen Menschen kostenlos übernommen haben, aus der Überzeugung heraus, dass die Gleichheit vor dem Recht niemals eine Frage des Geldes sein darf. Kinder mussten die Kleider ihrer älteren Geschwister nachtragen; nicht weil man sich Neue nicht leisten konnte oder aus Geiz, sondern weil Bescheidenheit zu lernen einen Selbstwert hatte und essentieller Bestandteil der Erziehung war. Aus erster Hand kannte ich mehrere tiefbürgerliche Leute, die ihr Einkommen nach oben beschränkten, weil sie sich bei mehr Einkommen geschämt hätten. Fast ausnahmslos waren alle mir Bekannten Familien sozial und caritativ engagiert, aus der tiefen Überzeugung heraus, dass ihre Privilegien sozialpflichtig sind. Zwar ist dies eine (gönnerhafte) patronale Ethik. Nicht die Gemeinschaft, der Staat entscheidet darüber wer was bekommt, sondern das Individuum selber. Aber immerhin – es ist eine echt gelebte Ethik, die meilenweit über das Klischee hinausgeht, das «man Geld hat aber es nicht zeigt».

Man mag mir vorwerfen, ich würde eine billige Lobeshymne auf das zwinglianische Arbeitsethos singen. Nur zu. Mir sind diese Tugenden höchst sympathisch und essentiell wichtig, egal wie man sie etikettiert.

Nimmt man das Winkelwiese-Projekt als Symbol, so steht dies in krassem Widerspruch zu obigen Werthaltungen. Allein die Grösse und Wohnfläche pro Person geht über jegliche Schamgrösse hinaus. Die Tatsache, dass Herr Binder sich einen professionellen Privat-Lobbyisten anstellt um PolitikerInnen und Privatpersonen zu bearbeiten und grosse Inserate in eigener Sache schaltet, ist völlig neuartig. Lobbyiert wurde bisher für den Finanzplatz, für die Pharma oder für die Gewerkschaften, aber niemals für eine Privatperson. (Dies macht übrigens nur noch der russische Milliardär Vekselberg, der den Ex-Botschafter Borer als Privat-Lobbyisten angestellt hat). Dass Herr Binder von seinem Lobbyisten noch als benevolenten Wohltäter hingestellt wird, ähnelt auf krasser Weise dem Bild des feudalen «gnädigen Herrn».
Ebenso wurde das Projekt gegenüber den Ausschreibungsunterlagen stark geändert. Das denkmalgeschützte Gartenhaus darf nun doch aufgestockt werden. Dort wird die Mutter wohnen. Der gartendenkmal-geschützte Garten darf nun mit einem Weg ergänzt werden, da die Mutter mit dem Auto vorfahren können muss. Selbstverständlich braucht es dazu einen Kehrplatz im Garten. Die Höhe des Haupt-Gebäudes wurde aufgestockt.
Es scheint so, wie wenn mit Geld eben alles möglich wäre. «Anything goes» (alles ist möglich): Die rechtliche Situation wird geritzt, man kann ein Privat-Parkhaus bauen, obwohl das Dörfli fast autofrei ist und die allermeisten Nachbarn kein Auto besitzen; man kann zwei Swimmingpools bauen, wo in der ganzen Altstadt sonst keines ist, man kann ein Einfamilienhaus bauen, wo in der Umgebung keines steht. Man kann einen Lobbyisten anstellen, der PolitikerInnen und die Quartierbevölkerung angeht. Grenzen setzt allein das Geld und sonst nichts. Genau das ist der tragische und inakzeptable Unterschied.

Eine «Klasse» für sich
Wer sich ein solches Haus in die Altstadt bauen will, sich keinen Deut an die kulturellen und städtebaulichen Strukturen anpasst, muss sich nicht wundern wenn in der Quartierbevölkerung Widerstand erwächst. Ein Quartier, wo man sich in die Fenster gucken kann, wo man sich noch kennt, die Kinder zusammen in die Schule gehen, man im Elternverein organisiert ist, wo man sich in den Ferien noch gegenseitig die Balkonpflanzen giesst. Ist es da verwunderlich, wenn die Quartierbevölkerung sich angesichts so eines Projektes fremd fühlt, sich ausgeschlossen fühlt, nicht zugehörig fühlt… eben von einer anderen Klasse.

Es ist die Unverschämtheit des Feudalisten, der glaubt man müsse ihm für seine Wohltaten (hier Steuern zahlen) zujubeln und danken. Und wer dies nicht tut ist eben nur neidisch….? Wer dies ablehnt ist ideologisch und klassenkämpferisch?

Wir reden deshalb von städtebaulichen Mängeln, von öffentlicher Nutzung des Gartens, von einem zu grossen Bauwerk. Wir getrauen uns nicht einmal das auszusprechen was ist: eine Bildung einer buchstäblich eigenen Klasse, eine kulturelle Grenzüberschreitung und Stillosigkeit der besonderen Art, von einem Menschen, der glaubt mit Geld alles machen zu können.

Es ist nicht unser Klassenkampf; es ist der Klassenkampf von oben; ein Kampf gegen den egalitären Liberalismus, wo erfolgreich versucht wird, das Rechts-, Steuer- und Wirtschaftssystem so zu beugen und so umzubauen, dass wenige Individuen bevorteilt werden, ein System, bei dem mit Geld alles zu haben ist. Im Grossen lehnen wir diese Masslosigkeit und Gier nach immer mehr ab. Konsequenterweise müssen wir das im Kleinen auch tun.

Superreich ist eben nicht gleich Reich mit „emene bizzeli meh“, wie dies das ehemalige AL-Mitglied damals bei der Abstimmung im Rat zur Villa an der Winkelwiese meinte.

Der Erste Teil kann nachgelesen werden auf www.badran.ch
http://www.badran.ch/blog/2008/06/19/neofeudalismus-teil-i-klassenkampf-von-oben/

2 Ergänzungen:
1. Fiskalisch (also von den potentiellen Steuereinnahmen her) ist es interessanter 4 Familien, die Einkommenssteuern zahlen auf dem Areal zu binden, als jemanden, der ohnehin fast nur Vermögenssteuer bezahlt. Zudem, kann er jederzeit gehen, eine gekoppelte Steuerpflicht an das Areal existiert nicht.
2. Ich finde es doch stossend, dass das Projekt überhaupt so weit gekommen ist. Wie kann die Stadt Zürich überhaupt Hand bieten (und dies massiv) so etwa zu planen auf städtischem Boden. Schliesslich ist der Bewerber ein Mensch, der viel Herzblut, Hoffnungen und Träumereien in das Projekt gesteckt. Das ist ein unschöner Aspekt, sollte die Volksabstimmung für die Vergabe im Baurecht verloren gehen, wovon ich ausgehe.