Ist der EU-Beitritt für die SP wirklich so zwingend?
8. Juli 2010Debatte zum Parteiprogramm (2)
Solange die EU so undemokratisch, zentralistisch-bürokratisch, neoliberal und unsozial ist, sollte der bilaterale Weg bevorzugt werden.
Eines vorweg: ich bin äusserst dankbar, dass ich zur ersten Generation gehören darf, die sich einen Krieg zwischen den Nationen Europas schlicht nicht mehr vorstellen kann. Ich anerkenne zutiefst die immensen Leistungen für den innereuropäischen Frieden durch die Staatengemeinschaft Europas. Und trotzdem bin und bleibe ich eine EU-Skeptikerin. Zu undemokratisch, zu zentralistisch-bürokratisch und zu neoliberal-unsozial ist die EU.
Undemokratisch
Undemokratisch ist sie weil die wichtigen Entscheide einerseits von wenigen Staatschefs (Europäischer Rat) gefällt werden andererseits von der nicht vom Volk gewählten Kommission. Die EU hat oligarchische Wesensmerkmale, deren Überwindung wenn überhaupt in weiter Ferne liegt.
Zentralistisch-bürokratisch
Zentralistisch-bürokratisch ist sie weil der Europäischen Kommission unglaublich viel Macht zukommt. Fast schon reissbrettartig wird Europa von Brüssel aus designt. Beispielsweise Portugal wird als Tourismus-Zone bestimmt, weshalb die Agrarland-Eigentümerinnen Still-Legungs-Beiträge erhalten und deshalb den Bauern die Pacht gekündigt wird, die wiederum arbeitslos werden. Denn Spanien und Holland sind als Nahrungsmittelproduzenten auserwählt. Absurde Beispiele gibt es zu Hauf. Ein junges Beispiel grotesker Regulierung ist das EU-Saatgutverkehrsgesetz, das die Zulassung von Erhaltungs-Sorten von z.B. Kartoffelsaatgut an den Ursprung in einem Nationalstaat knüpft. Wie wenn Kulturpflanzen je an den Landesgrenzen halt gemacht hätten. Das Bundesamt für Landwirtschaft im EDI wollte in «autonomen Nachvollzug» diese Regelungen auf Verordnungsstufe kopieren. Das hätte dazu geführt, dass hunderte Sorten von Tomaten, Zucchini und Peperoni nicht mehr hätten verkauft werden können, da der Nachweis beim Kriterium «Ursprung Schweiz» nicht hätte erbracht werden können. Eine Katastrophe für die Biodiversität. Diesen Unsinn konnte zum Glück verhindert werden, dank eines riesen Einsatzes von «ProSpecieRara», dessen Gemüseangebot um circa 40% der Sorten gesunken wäre. Ein schönes Beispiel dafür, dass wir nicht jeden Blödsinn nachvollziehen, sondern nur das was einigermassen sinnvoll ist.
Neoliberal und unsozial
Neoliberal und unsozial ist die EU aus mehreren Gründen. Letztendlich ist die EU ein Binnenmarkt und EU-Recht hauptsächlich Wirtschaftsrecht, das einen relativ zügellosen Wettbewerb ordnet. Die Folge ist eine deutliche Deregulierungs- und Privatisierungswelle ausgerechnet von Grossinfrastrukturen der Versorgung mit Post, Transport, Telekommunikations- und Energiedienstleistungen. Der freie Kapital- Dienstleistungs-, Personen- und Warenverkehr steht letztendlich im Dienste der Kapitalverwertungslogik, die eine maximale Rendite hervorbringen soll. Dazu sollen nach dem Effizenz-Gebot die Ressourcen frei allozierbar sein. Nehmen wir als Beispiel das von uns so sehr gelobte «Cassis de Dijon Prinzip», wonach «gleichartige Produkte» durch nationale Vorschriften nicht mengenmässig beschränkt werden dürfen. Die EU definiert jedoch ein «gleichartiges Produkt» nur nach seinen Produkteigenschaften. Wie ein Produkt hergestellt wurde, zum Beispiel unter sozial- und umweltverträglichen Bedingungen MUSS ausser Acht gelassen werden. Ein Land darf also kein Importverbot verhängen für Kleider, die mit umweltschädlichen Verfahren gefärbt wurden oder unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt wurden. Der Mensch hat dabei nicht die Rolle des mündigen Stimmbürgers, der politisch etwas regeln kann, sondern die Rolle des reinen Konsumenten, der ein «böses Produkt» halt nicht kaufen soll. Auch der Ausgleich zwischen den Nationen dient allein einer Stabilisierung der Wirtschaft, der Schaffung neuer Absatzmärkte und entspringt nicht einer sozialen Motivation. Besonders stossend und unsozial ist jedoch das Bollwerk Europa, das einerseits die Migration drastisch beschränkt und andererseits mit EU-Exportsubventionen auf Agrarprodukten geradezu die Migrationsgründe selbst schafft. Für Afrikaner beispielsweise ist es billiger importierten Fisch aus der EU zu kaufen als den einheimischen Fisch. So ruiniert man schlicht die Dritte Welt und sämtliche Bemühungen der Entwicklungszusammenarbeit. (Die Exportsubventionen würde man übrigens besser in Direktzahlungen stecken). Da will man doch nicht beitreten – schliesslich ist es ein sozialdemokratisches Gebot den sozialen Ausgleich auf der Welt zu schaffen und nicht das Gegenteil.
Kein Sozialdemokratisches Projekt
Es ist wohl allen klar, dass die EU kein Sozialdemokratisches Projekt ist. Nah ist uns einzig der Ursprung der Europäischen Integration als Friedensprojekt und der Versuch der Überwindung des Nationalstaats. Aber genau von letzterem ist die heutige EU weiter weg denn je. Wir beobachten in vielen Ländern den Aufstieg Nationalkonservativer Parteien und darüber hinaus massive und aggressive Sezessionsbemühungen wie jüngst in Belgien.
Drinn oder Draussen?
Nun stellt sich die Frage: Wollen wir als Sozialdemokraten wirklich zu so einem Gebilde dazugehören? Können wir im Rahmen der EU eine Wirtschaftsdemokratie verwirklichen? Im neuen SP-Parteiprogramm wird das klar mit Ja beantwortet (umgehend begleitet von diversen flankierenden Massnahmen). Die Begründung dabei ist, dass wir als einer von 28 Vollmitgliedern mehr Einfluss haben auf die Entwicklung der EU und uns nicht mit dem autonomen Nachvollzug begnügen müssen. Die Schlüsselfrage ist also, wo wir mehr Souveränität gewinnen, wo wir mehr mitbestimmen können (was ja auch nicht gerade positiv motiviert ist). Für mich ist die Antwort klar: Als Nichtmitglied werden wir besser gehört; dieser kleine weisse Fleck auf der europäischen Landkarte, die halb-direktdemokratische Willensnation Schweiz, irritiert. Es wird hingehört, warum die Schweiz nicht EU-Mitglied werden will. Dazu müssen wir eine sozialdemokratische Begründung formulieren und dieses Feld nicht den Nationalkonservativen überlassen oder denen, die nur auf den wirtschaftlichen Vor- oder Nachteil schielen.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht hatte im Jahre 1974 einen bahnbrechenden Entscheid gefällt – der als «Solange 1» in die Geschichte einging. Darin hielt das höchste deutsche Gericht fest, dass «Solange der Intergrationsprozess der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, dass das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten erhält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, (-)» behält sich das Bundesverfassungsgericht vor, sich nicht dem Europäischen Gerichtshof zu unterstellen. Die Wirkung war mächtig und hatte zur Folge, dass der Europäische Gerichtshof die Weiterentwicklung der Grundrechtskataloge und deren Auslegung massiv vorantrieb.
Solange…
So formuliere ich scheu eine andere SP-Position der EU gegenüber: Langfristig steht die SP einer EU-Vollmitgliedschaft positiv gegenüber. Solange jedoch die EU so undemokratisch, unsozial und zentralistisch-bürokratisch ist, behält sich die SP in den Beziehungen zur EU den bilateralen Weg vor.
Bitte sehr: Zur Diskussion.