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Auf die Barrikaden!

Zur Abstimmung über die Erbschaftssteuerreform
Publiziert im P.S. am 22. Mai 2015
Wer nennt sich da «bürgerlich»? Und wissen die «Bürgerlichen» überhaupt, was «bürgerlich» bedeutet? Der Kampf um die Erbschaftssteuer lässt vermuten, dass dem nicht so ist.

Ich habe so ein Hobby. Wenn Wählende, PolitikerInnen oder Medienschaffende das Wort «bürgerlich» in den Mund nehmen, zum Beispiel, sie seien «stramm bürgerlich», pflege ich zu fragen, was denn «bürgerlich» für sie sei. Es ist belustigend bis beängstigend, was ich zu hören bekomme. Meist aber wissen sie keine Antwort. «Das ist eine gute Frage». Keiner kann sagen, was das im politischen Kontext meistgebrauchte Wort überhaupt heisst. Eigenartig, denn jede ‹Glückspost›-Leserin weiss es.

Wenn Prinz Adam eine «Bürgerliche» heiratet, dann wissen die Regenbogenpresse-Leserinnen, es ist eine Nichtadlige. Bürgerlich ist das Gegenteil von adlig. Die bürgerliche Revolution richtete sich gegen den Vorrang der Adeligen an Gütern, Grundbesitz und Ämtern durch Geburt. Fortan sollte auf chancengleicher Basis die Leistung zählen und nicht die Herkunft.

Der Klassenkampf von oben

Die Diskussion um die Erbschaftssteuerreform stellt dieses bürgerlich-liberale Urprinzip auf die Nagelprobe. Und siehe da – es zeigt sich ein schauderhaftes Bild: Das Bild der gnädigen Herren mit ihren milden Gaben, deren Vorrechte zu schützen sind. Immerhin besitzen zwei Prozent der Steuerpflichtigen 750 Milliarden Franken. Gleich viel wie alle anderen 98 Prozent zusammen. Um angesichts dieser extremen Tatsache die zwei Prozent als «Geldadel» zu bezeichnen, muss man nicht links sein.

Die Vasallenzunft, die diese Pfründe schützt, schreckt vor nichts zurück, um mit einer Millionenkampagne einen Untergang der Schweiz, des Mittelstands und natürlich aller KMU heraufzubeschwören. Wie wenn die hohen Erbschaftssteuern, die wir bis Ende der Jahrtausendwende hatten, nicht zum Erfolgsmodell Schweiz gehört hätten.

Dieses bestand seit der Nachkriegszeit im Aufbau eines starken, kaufkräftigen Mittelstandes und einer hervorragenden Absicherung der einkommensschwachen Schichten. Und nicht in der Privilegierung einer kleinen, äusserst mächtigen Schicht. Ausgleich und Balance auch zwischen oben und unten. Damit hat der Klassenkampf von Oben seit Mitte, Ende der 90er-Jahre Schluss gemacht.

Das gehätschelte Kapital

Die Vermögensbildung der Kapitaleigentümer wurde in den vergangenen 15 Jahren mit jährlichen Steuererleichterungen in Milliardenhöhe massiv begünstigt. Auf Bundesebene wurde 1998 die Kapitalsteuer (Steuer auf dem Aktienkapital) abgeschafft. Dann folgte das «Holdingprivileg», das die steuerfreie Erzielung von Gewinnen ermöglichte. Mit der Unternehmenssteuerreform II durfte in Kapitalgesellschaften eingebrachtes Kapital steuerfrei herausgenommen werden (Kapitaleinlageprinzip), und das zehn Jahre rückwirkend. Dividendenerträge werden (bei über 10 Prozent privilegierter Beteiligung) nur zur Hälfte oder noch weniger besteuert.

In vielen Kantonen wurden die Erbschaftssteuern nur für direkte Nachkommen abgeschafft, Vermögenssteuern gesenkt, überall die Gewinnsteuern und die kantonalen Kapitalsteuern gesenkt sowie Steuern auf Immobilien gesenkt oder abgeschafft (z.B. im Kanton Zürich die Handänderungssteuern). Nettoprofiteure waren vor allem die Konzerne und die grossen Familienunternehmen mit den grossen Bilanzen. Nicht, wie uns verkauft wurde, die kleinen und mittleren Unternehmen.

Am schnellsten geht die Vermögensbildung mit Kapitalgewinnen (leistungsfreie Steigerung der Aktienwerte). Just diese werden in der Schweiz als einziges Land gar nicht besteuert. Und jetzt sollen noch Emissionsabgaben (Abgaben auf Finanztransaktionen) abgeschafft werden. Ein Milliardenverlust für den Bund. Es ist, wie wenn sie den Hals nicht voll bekämen. Immer mehr wird verlangt. Der Standortwettbewerb macht’s nötig.

Das Mittelstandsmassaker

Refinanzieren kann all das der doofe Mittelstand. Der kann ja schliesslich nicht mit der Reichenkarawane ins steuergünstigere Land flüchten. Und tatsächlich: In den letzten Jahren wurden die Lohnnebenkosten für hohe Einkommen zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung erhöht. Das bezahlt der obere Mittelstand teuer. Die Mehrwertsteuer wurde um Milliarden erhöht zur Finanzierung der IV. Das bezahlen die Einkommensschwachen teuer. Überall wurden Gebühren erhöht und die Einkommenssteuern wurden nicht gesenkt. Wegen der Entlastung des Kapitals allein in der Stadt Zürich in Höhe von 280 Millionen jährlich konnten die Steuern nicht um 18 (!) Steuerprozente gesenkt werden. Im Gegenteil, jetzt, wo fast alle Kantone in der Kreide stehen wegen der krassen Entlastung des Kapitals, drohen Einkommenssteuererhöhungen. Das macht den Lohnfranken zur meistbelasteten Einkommensquelle überhaupt. Das nenne ich ein Mittelstandsmassaker.

Jetzt reicht’s! Aus Gründen der Alterung der Bevölkerung braucht die AHV zusätzliche Mittel. Vorgeschlagen ist eine Finanzierung über die Mehrwertsteuer, die vor allem die unteren und mittleren Einkommen trifft. Zudem soll das Rentenalter erhöht werden – geht es nach den Bürgerlichen. Mir reicht’s. Es ist Zeit, dass das entlastete Kapital seinen Beitrag an die AHV-Finanzierung leistet. 76 Milliarden Franken werden jährlich vererbt. Die sehr moderate Erbschaftssteuerreform würde 4 Milliarden jährlich in die AHV-Kasse spülen: Gut ein Mehrwertsteuerprozent, gut ein Lohnprozent oder 1,5 Jahre weniger arbeiten. Maximal zwei Prozent der Steuerpflichtigen würden belastet, alle anderen entlastet.

Auf die Barrikaden!

Und so verstehe ich nicht, wo der Protest bleibt. Es müsste ein Aufschrei durch die Bevölkerung gehen – allen voran des oberen Mittelstandes, der bei einem Freibetrag von vier  Millionen für Familien ja nur und einzig positiv betroffen wäre. Schliesslich könnten die Lohnnebenkosten um über ein Prozent gesenkt werden. Wo bleibt der Hilfeschrei der Einkommensschwachen? Immerhin könnte die Mehrwertsteuer um über ein Prozent gesenkt werden? Warum protestieren alle Arbeitnehmenden nicht, denn sie müssten alle 1,5 Jahre weniger arbeiten? Wo bleibt der Protest der 1,6 Millionen Kinderlosen und deren 1,6 Millionen Erben? Die Göttikinder, die Geschwister, Nichten und Neffen und die Konkubinatspaare? Diese berappen heute extrem hohe kantonale Erbschaftssteuern bis zu 49 Prozent und mit lächerlich kleinen Freibeträgen von wenigen tausend Franken.

Warum organisieren die Schwulen- und Lesbenverbände keine Demo gegen diese krasse Diskriminierung? Warum stehen die KMU nicht auf, weil sie endlich weniger Mehrwertsteuer zahlen müssten? Und weil sie künftig durch die Verfassung geschützt sind, im Gegensatz zu heute, wo nur das Vererben von KMU an die Kinder steuerfrei ist und sonst ohne Freibetrag  33 Prozent Steuern anfallen?

Ich vermisse den Schulterschluss von Bürgerlichen und Linken, die diesem Klassenkampf von oben ein Ende setzen. Wir, die so stolz auf unsere antifeudalistische Vergangenheit sind – die Vertreibung der Habsburger, des Adels. Das müsste doch möglich sein?

Wie sagte der liberal-bürgerliche Schriftsteller Gottfried Keller in seinem «Fähnlein der sieben Aufrechten»:

«Es wird eine Zeit kommen, wo in unserem Lande, wie anderwärts, sich grosse Massen Geldes zusammenhängen, ohne auf tüchtige Weise erarbeitet und erspart worden zu sein; dann wird es gelten dem Teufel die Zähne zu weisen; dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch.»

Auf die Barrikaden, Leute! Wir wollen zurück zu unserem echt bürgerlich-liberalen Erfolgsmodell und keinen demokratisch legitimierten Neofeudalismus.