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Zum Flüchtlingsdrama und Deutschland (E-Maildebatte in der NZZ a.S.)

E-Maildebatte zum Flüchtingsdrama und Deutschland publiziert in der NZZ a.S. vom 20.12.2015

Sowohl Jacqueline Badran wie Christian Wasserfallen haben grossen Respekt vor der Leistung der deutschen Kanzlerin. Es bleibt trotzdem genug Stoff für Streit

«Ständig muss Angela Merkel als Mechanikerin der EU einspringen»

Die E-Mail-Debatte

Christian Wasserfallen

Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel hat am Parteitag der CDU in der Flüchtlingsfrage Boden gutgemacht. Entgegen den Prognosen ist sie nicht krachend untergegangen, sondern hat still und leise in einigen Punkten nachgegeben, um dann mit einer starken Rede die CDU neu um sich zu scharen und die Angriffslust der CSU zu mindern. Erneut hat sie gezeigt, dass sie kaum angreif- und verletzbar ist. Ein politisches Phänomen. Es ist schon erstaunlich, wie sich die ehemalige Wissenschafterin aus der DDR in der Politik etablieren konnte. Aber schafft sie das Flüchtlingsproblem wirklich?

Jacqueline Badran

Ich finde, Angela Merkel hat das grossartig gemacht. Und sie ist trotz massiver Kritik nicht umgekippt in ihrem pragmatischen Optimismus. Endlich füllt sie das C (für christlich) in ihrem Parteinamen CDU mit Bedeutung: Nächstenliebe und Menschlichkeit. Sie unterstreicht damit letztlich auch, dass die EU als Wertegemeinschaft gedacht ist, die für den Frieden geschaffen wurde. Nur – sie kommt Jahre zu spät. Hätte sie so viel Menschlichkeit schon früher bei sich entdeckt, hätten Leid und Flüchtlingsströme vermieden werden können.

Christian Wasserfallen

Da interpretieren Sie aber ziemlich viel hinein. Ist es nicht einfach so, dass Deutschland als bedeutendstes Land in Europa in jeder Krise die Führungsrolle übernehmen muss? Ehrlich gesagt, sehe ich in Europa – speziell innerhalb der Institution EU – in dieser Frage völlig unterschiedliche Haltungen. Diese Werthaltungen zeichnen jedoch nicht gerade das Bild einer EU als Union des Zusammenhaltes, sondern eher jenes einer Union der Eigeninteressen. Die ehemaligen Staaten des Ostens verfechten eine knallharte Linie, wohingegen Deutschland, aber etwa auch Schweden anfänglich die Willkommenskultur hochhielten und nun wieder eher davon abrücken.

Jacqueline Badran

Ich gebe Ihnen recht – die EU zeigt ein zerrissenes Bild. Und Deutschland nimmt seit langem die Rolle der Reparaturwerkstatt der EU ein. Genau darum sage ich ja auch: Angela Merkel kommt zu spät. Deutschland hätte viel früher handeln sollen. Zum Beispiel mit der transnationalen Durchsetzung eines Exportstopps für Rüstungsgüter in den Nahen Osten. Sie machte indes das Gegenteil. Deutschland hat ausgerechnet Katar mit Panzern beliefert. Dies befeuert den Bürgerkrieg in Jemen, das nächste Pulverfass. Ebenso wurde die Hilfe in den Flüchtlingslagern der Region heruntergefahren. Das ist doch bigott. Auch in der Schweiz haben die Mitte-Rechts-Parteien Rüstungsexporte nach Saudiarabien gelockert, obwohl klar war, dass Schweizer Waffen beim IS landen. Dieser Irrsinn muss aufhören.

Christian Wasserfallen

Der Irrsinn ist doch, dass es Länder gibt, die vertraglich abgemachte Bedingungen zu diesen sensitiven Geschäften nicht einhalten können. Das muss sich ändern. Zurück zu Deutschland: Das Land befindet sich effektiv in einer schwierigen Rolle innerhalb Europas. Ständig muss Angela Merkel als Mechanikerin der EU einspringen, um das kaum mehr steuerbare Boot zu lenken zu versuchen. Seien es Griechenland, der schwächelnde Euro oder die Flüchtlingskrise. Man stelle sich vor, in Deutschland wäre eine Regierung an den Hebeln der Macht, die das eben nicht schaffen würde. Davor habe ich Respekt. Und ich hoffe, dass in unserem nördlichen Nachbarland der Rechtsstaat und die Politik stark genug sind. Um die Situation zu verbessern, könnte man in Deutschland, ähnlich wie in der Schweiz, vielleicht sogar etwas mehr Demokratie wagen und der deutschen Bevölkerung mehr Mitsprache beim Gesetzgebungsprozess geben. Das würde das System zusätzlich stabilisieren, und es wäre ein positives Zeichen an die Menschen innerhalb Europas, dass sie ihre Zukunft vermehrt selbst mitgestalten können.

Jacqueline Badran

Immer wenn es um Rüstungsgeschäfte geht, weichen Sie aus. Die Rüstungsausgaben waren noch nie so hoch, und noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg hatten wir so viele Flüchtlinge. Darüber müssen wir reden. Vor dieser Entwicklung warnt die SP seit Jahrzehnten. Ich finde es frustrierend, dass wir immer nur Symptombekämpfung betreiben und die Ursachen ausblenden. Die Rüstungskonzerne – auch die deutschen – machen Gewinne wie noch nie. Den kleinen Leuten in Deutschland sagt man nun, sie sollen doch ein bisschen zur Seite rücken und die verordnete Willkommenskultur bitte solidarisch mittragen. Derweil verbünden sich die Eliten mit Staaten, die die Menschenrechte mit Füssen treten, und profitieren davon. Die Folgen müssen die kleinen Leute zahlen. So sind etwa die islamischen Malediven, die am meisten IS-Krieger exportieren, Partner an der kommenden deutschen Tourismusmesse. In diesen Ländern brauchte es dringend mehr Demokratie, damit sich frustrierte Massen nicht so leicht radikalisieren lassen. Ebenso ist Merkels Hätscheln des totalitären türkischen Präsidenten Erdogan inakzeptabel. Eine globale Friedens- und Demokratisierungspolitik muss wieder auf die Agenda. Da hätte Merkel – aber auch wir – längst viel mehr tun müssen.

Christian Wasserfallen

Auch wir exportieren leider IS-Kämpfer. Kontakte zu anderen Ländern abzubrechen, ist das Schlimmste, was man tun kann. Das hat die Weltgeschichte schon mehrfach gezeigt.

Jacqueline Badran

Davon redet niemand. Aber bei Unrecht wegschauen und – schlimmer noch – aus wirtschaftlichen Interessen gewisser Eliten Menschenrechtsverletzungen zu bagatellisieren, ist garantiert falsch. Genau das macht aber Merkel – und mit ihr der ganze Westen – auch. Es ist zum Verzweifeln. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen friedliche Weihnachten – unser Fest der Nächstenliebe.