Nein zu antiurbanen, seelenlosen Unorten (Gastbeitrag NZZ Magazin)
22. August 2022
Gastbeitrag im Stadtblog Metropolis der NZZ a.S.
Jacqueline Badran schreibt:
Nein zu antiurbanen, seelenlosen Unorten!
Unsere Gastautorin war im Kreis 5 und beschreibt, warum ihr der äussere Teil mit den alten Blockrandbauten viel besser gefällt als das neue seelenlose Hochhausviertel.
Ich hoffe, Sie sind alle nach der Sommerpause wieder wohlbehütet zurück in unserer wunderbaren Stadt. Ich selbst habe, wie immer im Sommer, ein wenig meine eigene Stadt Zürich erkundet; bald zu Fuss, bald mit dem Fahrrad. Gerade eben bin ich durch den neuen Teil des Kreises 5, Zürich-West, gefahren, von Altstetten aus Richtung Kreis 5. Als ich durch die Pfingstweidstrasse fuhr, vorbei an der neuen Kunsthochschule, vorbei an den neuen Hochhäusern, vorbei am Mobimo-Tower, bemerkte ich, wie sich meine Pedalentritte beschleunigten; möglichst schnell weg wollte ich. Als ich im alten Kreis 5 hinter den Gleisbögen ankam, wurde ich sogleich entspannter. Dort setzte ich mich in eines der lauschigen Strassencafés an einer der Blockrandüberbauungen, die so typisch sind für viele Quartiere in Zürich und in den allermeisten Städten Europas.
Ich sinnierte darüber, wieso es mich wie von einem Staubsauger angezogen vom neuen in den alten Kreis 5 gesaugt hat. Inmitten der Blockrandüberbauungen fühle ich mich wohl. Es sieht zwar alles irgendwie einheitlich aus mit den klaren Strassen- und Fassadenlinien, die wie ein Raster sind. Und trotzdem gibt es allerlei zu entdecken. In den Erdgeschossen hat es halböffentliche Nutzungen, wie Läden und Restaurants, Apotheken und Kinos; jedes aneinandergebaute Haus sieht anders aus, die langen Fassaden sind horizontal durch Eingänge unterbrochen; vertikal sind die Fassaden aufgeteilt: Unten haben sie hohe Erdgeschosse, dann folgen einige Stockwerke im Lochfassadenstil und schliesslich ein anders aussehendes erstes und zweites Dachgeschoss. Und überall findet in dieser Kleinparzelligkeit Alltagsleben statt.
Drüben hingegen dominieren Einheitsfassaden, von unten bis oben gleich, ewig lange ohne Unterbruch. Wie ausgestorben. Leblos. Seelenlos. Ein grossparzelliger Unort, stellte ich fest, ein Ort, wo man nicht hin, sondern möglichst schnell wegwill. Denn was gäbe es da zu tun und zu sehen? Welchen Grund gibt es, dort zu verweilen?
Müssen wir uns künftig damit abfinden, dass immer mehr Orte so aussehen? Das Gegenteil von urban, weil einfältig, nicht vielfältig?
Man sagt uns ständig, wer keine Zersiedelung wolle, der müsse in die Höhe bauen. Was für ein armseliger Unfug. Jede auch nur halbwegs informierte Person weiss, dass Hochhäuser kein Verdichtungsinstrument sind. Hochhäuser können zwar auf einer einzelnen Parzelle eine höhere Ausnutzungsziffer (Bruttogeschossfläche pro Grundfläche) haben, nur ist diese belanglos. Erstens sind Hochhäuser immer Einzelbauten und müssen wegen unserer Bauregeln hohe Abstände zwischen den Häusern aufweisen. (Jetzt denken Sie bloss nicht, dann müsste man halt die Baugesetze ändern; das würde kein Bauherr zulassen; denn die extrem hohen Erstellungskosten und weit überproportional höheren Unterhaltskosten eines Hochhauses bedürfen hoher Verkaufs- oder Mietpreise; und die bekommt man nur, wenn man Aussicht verkauft, die dann logischerweise weg ist, wenn die Hochhäuser zu dicht stehen.)
Zweitens ist das Verhältnis von Nutzfläche zu Erschliessungsfläche in einem Hochhaus miserabel. In einem Hochhaus (wo die Feuerwehrleiter nicht mehr hinaufkommt) braucht es viele Aufzüge, Fluchttreppen sowie Installationsschächte für die Haustechnik. So zerfällt die effektive Ausnutzungsziffer bezogen auf die real nutzbare Wohn- oder Bürofläche. Bei einer Blockrandüberbauung oder im Baustil, den wir von den Altstädten her kennen, erschliessen hingegen ein Treppenhaus und ein kleiner Lift die vier bis sechs Geschosse.
Allein diese Tatsachen machen klipp und klar, dass Blockrandüberbauungen und noch mehr Altstädte über eine wesentlich höhere Dichte und Ausnutzung verfügen, als das je ein Hochhaus könnte. Der zweite Grund, warum sie dichter sind: kein Zwischenraum, um hindurchzuschauen. Aneinanderbauen heisst das Zauberwort. Und zwar kleinparzellig und niemals mit solchen ungastlichen Einheitsfassaden. Also präzis so, wie man das früher gemacht hat. Flanieren Sie einmal der Bahnhofstrasse entlang: Da stehen auch Riesenklötze, aber ist Ihnen je in den Sinn gekommen, sie als solche zu bezeichnen?
Kommt hinzu, dass die grossen Zersiedelungstreiber und Landfresser die Strassen sind, die die Schlaf- und Fernsehstätten mit den Arbeits- und Einkaufs- und Freizeitzentren verbinden. In einer Altstadt hingegen oder in Blockrandbebauungen mit halböffentlichen Erdgeschossnutzungen hat es alle Angebote und Funktionen, die für den Alltag notwendig sind. Somit brauchen wir viel weniger Strassen, Autos und verschwenden weniger Raum.
Wenn wir also verdichten müssen, dann müssen wir definitiv nicht in die Höhe bauen, sondern brauchen moderne Altstädte. Luftiger und lichter als die alten; mit mehr Balkonen; aber mit der gleichen Schichtung, wie die grossartige Altstadt in Bern (in der ich während der Session lebe): unten Läden, Restaurants und Dienstleistungen, darüber einige Stockwerke mit Büros und zuoberst helle Wohnungen. Dazu gesellen sich viele kleine lebendige Quartierzentren mit ihren lauschigen kleinen Plätzen zum Verweilen, für die Geselligkeit, um sich wie zu Hause zu fühlen.
Liebes Baudepartement, liebe Stadtentwickler, die ihr an neuen Hochhäusern herumplant. Reisst einen Stopp, haltet inne, denkt nach. Ihr seid nicht die Zudiener von Architekten, die sich in einem Hochhaus verwirklichen wollen; ihr seid nicht die Zudiener von sogenannten Investoren, die möglichst viel Kapital auf ihrer Parzelle verwerten wollen. Ihr plant und entwickelt den Raum, in dem Menschen leben und arbeiten. Geht dazu einmal in andere Städte schauen. So zum Beispiel nach Amsterdam, Wien oder Christchurch (Neuseeland), wo die Stadtentwickler kleine aneinandergrenzende Parzellen allein mit einem Höhenplafond ausscheiden und vergeben (wie das alle grossartigen Städte tun), wo die Menschen wieder für sich bauen können, ohne Zwischenraum, um hindurchzuschauen. Menschenfreundlich, vielfältig und beseelt.
Und Sie? Waren Sie in den Sommerferien in einer Stadt, etwa Siena, Barcelona, Paris, Venedig? Haben Sie dort die neuen Hochhäuser am Rand angeschaut, oder sind Sie in den Altstädten verweilt?
Und damit: Nein, wir müssen uns nicht abfinden mit den neuen seelenlosen, ungeselligen, antiurbanen, einheitsfassadigen Unorten, die nicht einmal mehr Dichte ermöglichen. Mit Orten, wo Menschen nur hingehen, wenn sie müssen, und von wo sie so schnell wie möglich wieder wegwollen.