Kolumne #Korrigendum: Meinung ohne Wissen
11. September 2022Kolumne #Korrigendum
publiziert in der Sonntagszeitung
11.9.2022
https://www.tagesanzeiger.ch/meinung-ohne-wissen-799960327623
Meinung ohne Wissen
Medienschaffende folgen oft ihrer Intuition, statt sich mit der Materie zu befassen. Besonders deutlich wird das bei der AHV-Vorlage.
Etwas haben gute Leute aus Medien und Politik gemeinsam: Sie sind der Wahrhaftigkeit verpflichtet. Erforderlich ist deshalb, das zu verstehen, was Tatsache ist, und nicht das, was gesagt wird. Der Weg dazu heisst: Folge dem Geld. Immer.
Sich nur denkfaul auf seine Intuition zu verlassen, um sich bei komplexen Dossiers eine Meinung zu bilden, ist eigentlich inakzeptabel, bei Medienschaffenden aber gang und gäbe. Besonders auffällig ist dies bei der aktuellen Renten-Vorlage. So schreibt eine Journalistin des «Tages-Anzeigers» in ihrem Leitartikel: «Starke Frauen sagen Ja zu einem höheren Rentenalter. Gerade Frauen sollten der AHV-Reform zustimmen. Das Rollenbild, dem ihr tieferes Rentenalter entstammt, ist längst überholt.» Wie wenn es hier um Frauenbilder ginge und nicht um knallharte ökonomische Realitäten und ein Multi-Milliarden-Business.
Hätte sich die Journalistin nur ein bisschen eingehender mit der Vorlage befasst, hinter die Phrasen von Politikerinnen des rechten Lagers geschaut, wäre ihr nämlich aufgefallen, dass die Linke immer dann für eine Erhöhung des Frauenrentenalters war, wenn sich gleichzeitig die AHV-Renten für alle deutlich verbesserten. So auch bei der letzten Renten-Abstimmung, wo die wegen Senkung des Umwandlungssatzes tieferen Renten im BVG (die sich übrigens seit Jahren im Sinkflug befinden) durch eine Erhöhung der deutlich frauenfreundlicheren AHV-Renten hätten kompensiert werden sollen.
Wie wenn es hier um Frauenbilder ginge und nicht um knallharte ökonomische Realitäten und ein Multi-Milliarden-Business.
Die Journalistin hätte daraus schlussfolgern müssen, dass es den Linken bei ihrem Widerstand gegen die AHV-Reform nicht um das Frauenrentenalter geht, sondern um die Rentenhöhe und die ökonomische Verbesserung der Situation derjenigen Menschen, die Teilzeit (meist Frauen) und/oder im mittleren und tiefen Lohnsegment arbeiten.
Immerhin hat sie festgestellt, dass der Rentenabbau in der AHV ja schliesslich im BVG kompensiert werden solle. Auch das ist reines Papageien-Geplauder. Wäre sie «dem Geld gefolgt», hätte sie leicht merken können, dass da etwas gehörig faul ist.
Jährlich fliessen über Beiträge 66 Milliarden Franken in die zweite Säule BVG, in die AHV hingegen nur 35 Milliarden Franken (plus rund 13 Milliarden aus Staatskasse und Mehrwertsteuer). Daraus resultiert aus dem BVG eine mittlere Rente von 1700 Franken und aus der AHV eine von 1800 Franken. Wir schieben also deutlich mehr Geld ins BVG und bekommen dafür weniger Rente.
Aus der Perspektive der Unternehmen, die die Beiträge mit ihren Mitarbeitenden erwirtschaften, ist das BVG sündhaft teuer (14 Prozent BVG versus 8,7 Prozent AHV). Zumal man damit unverschämt hohe Verwaltungs- und Vermögensverwaltungskosten von 5,6 Milliarden Franken (die sich allein in den letzten 10 Jahren verdreifacht haben!) finanzieren muss. Hinzu kommt die Finanzierung mit unseren Lohnbeiträgen der gesetzlich erlaubten Gewinneinbehaltung von bis zu 10 Prozent des Bruttoertrags, was bewirkt, dass die Versicherungskonzerne von Rekordgewinn zu Rekordgewinn eilen.
Aus volkswirtschaftlicher Perspektive führen diese Lohnbeiträge zu Fehlallokationen – fliessen sie doch zum grossen Teil an die hohen Einkommen, die problemlos selbst fürs Alter sparen könnten. Der versicherte Lohn im BVG ist nämlich unten abgeschnitten durch den Koordinationsabzug von 25’095 Franken auf den Lohn. Es liegt in der Natur des BVG, dass dies systemisch teilzeit- und tieflohnfeindlich ist. Da helfen auch die versprochenen Senkungen des Koordinationsabzugs wenig als «Verbesserung» für die Frauen. Diese ergäbe in vielen Jahrzehnten vielleicht eine höhere Rente von wenigen 100 Franken (ist übrigens massgeblich vom Zinssatz abhängig). Zudem kennt das BVG im Gegensatz zur AHV keinen Inflationsschutz und somit keine Rentengarantien.
Es ist unser Job, für möglichst viele Menschen möglichst hohe Renten zum günstigsten Preis zu schaffen.
Aus der Perspektive der Bevölkerung und der Pensionierten profitieren von den Lohnbeiträgen in die AHV fast alle, weil 92 Prozent der Bevölkerung mehr AHV-Rente bekommen, als sie je einbezahlt haben. Allein mit 0,8 Prozent mehr Lohnbeiträgen in die AHV könnte man eine ganze dreizehnte AHV-Rente finanzieren. Würde man dafür 0,8 Prozent weniger an Beiträgen ins BVG zahlen, würde das kaum auf die Rentenhöhe durchschlagen.
Es ist unser Job, für möglichst viele Menschen möglichst hohe Renten zum günstigsten Preis zu schaffen. Wenn wir also wissen, dass der Lohnbeitrag in der AHV um Längen effektiver (höhere Renten) und effizienter (zu einem tieferen Preis) ist, wieso machen wir dann das Gegenteil? Mehr bezahlen, weniger bekommen.
Von einem Ausbau der AHV würden 92 Prozent der Bevölkerung profitieren, Männer wie Frauen, Metzger wie Bäckerin, Gewerbler wie Bäuerin. Am Ausbau des BVG (geplante Lohn-Beitragserhöhung auf 70 Milliarden) verdienen vor allem Personen im Hochlohnsegment und die Privat-Assekuranz.
Wer diesen polithandwerklichen Pfusch nicht sieht, wer nicht merkt, dass es um die ökonomische Absicherung und Kaufkraft von Millionen von künftigen Pensionierten geht, sollte keine larmoyante Meinungsbeiträge schreiben. Nur ein Nein führt zu einer Lösung, wo wir alle deutlich mehr Rente bekommen und dafür weniger zahlen und die AHV erst noch für Jahrzehnte sichern.