Kolumne #Korrigendum: Politics by Behauptung
17. September 2022Kolumne #Korrigendum
publiziert in der Sonntagszeitung
17.9.2022
https://www.tagesanzeiger.ch/politics-by-behauptung-103999278969
Politics by Behauptung
Seit Mitte der 90er-Jahre entlastet die Steuerpolitik der Rechten die Kapitaleigentümer und belastet Konsum und Arbeit. Weshalb durchschauen das die Medien nicht?
In der NZZ-Wirtschaftsredaktion ist wieder mal ihr religiöser Eifer erkennbar: «Was gut ist für die Kapitaleigentümer, ist gut für uns alle!» Der neuste Rundumschlag kommt vom NZZ-Chefökonomen (wie er sich selbst nennt) zur Verrechnungssteuer-Vorlage. Er meint zu wissen, dass ich einen ideologischen Kampf gegen das Kapital führe: «Eine Reformvorlage der Bürgerlichen übervorteilt das böse Kapital und die noch böseren Konzerne und ermöglicht es den Reichen, Steuern zu hinterziehen.» So seine Zusammenfassung (ergänzt mit einer Karikatur eines Bonzen mit «Salami-Zigarre») eines Erklärvideos, welches ich zur Vorlage gemacht habe und worin ich mit Salamischeiben hantiere.
Zugegeben, die Erklärvideos sind zugespitzt – jedoch immer faktenbasiert und wurden bisher nie widerlegt. Fakten notabene, die wir seit Jahrzehnten selbst erheben müssen; zum Beispiel durch unzählige schriftliche Anfragen an Steuerverwaltungen von Bund, Kantonen und Gemeinden. Die seit Mitte der 90er-Jahre andauernde Steuerpolitik der Entlastung der Kapitaleigentümer und der Belastung von Konsum und Arbeit von rechts lebt von gewollter Intransparenz. Das führt dazu, dass sie irgendetwas behaupten können und wir ihnen das Gegenteil beweisen müssen. Nicht umgekehrt, wie seriöse Politik gehen müsste.
Die neuste Salamischeibe heisst Verrechnungssteuer-Vorlage.
Dabei ist die Metapher mit der Salamitaktik mehr als gerechtfertigt. Deshalb eine Chronologie der Salamischeiben in Stichworten:
Ziel: «Kapital- und Vermögensteuer reduzieren; vorwiegend werden Einkommen und Konsum besteuert» (Zitat aus Strategiebericht Finanzdepartement). Seit den Neunzigerjahren: drei Unternehmenssteuerreformen plus privilegierte Dividendenbesteuerung, 13 Reduktionen der Stempelabgabe (quasi Mehrwertsteuer für den Finanzbereich), 17 Revisionen (meist Teilabschaffungen) der Verrechnungssteuer. Kosten = 5 Milliarden Franken Mindereinnahmen (offizielle Zahlen vom Bund) zugunsten Kapitaleigentümer. Evaluation der versprochenen «positiven dynamischen Effekte» = null. Dafür mehrfache Erhöhung der Mehrwertsteuer und diverser Abgaben. Kosten = plus 5 Mrd. Mehreinnahmen, zahlt die Bevölkerung. Kronzeugin der NZZ (und anderer Medien), dass das allen nützt: Mehreinnahmen bei der Gewinnsteuer. Nur: Das zeigt einzig und allein, dass die Gewinne der Konzerne explodiert sind, und rein gar nichts über positive Effekte der Steuerpolitik.
Die neuste Salamischeibe heisst Verrechnungssteuer-Vorlage. Ursprüngliches Ziel: zurückholen der Konzernfinanzierungsaktivitäten von Luxemburg in die Schweiz. Ursprüngliche Vorlage: Systemwechsel (Erhalt Sicherungszweck) bei der Verrechnungssteuer = Abschaffung Verrechnungssteuer, dafür Einführung einer Zahlstelle respektive Meldepflicht für juristische (!) Personen. Wir von der SP wären dafür gewesen, weil zielgenau und sachgerecht.
Aber nein, die Vorlage muss unsachgemäss überladen werden: Hineinschmuggeln der Abschaffung Umsatzabgabe (Mehrwertsteuer Finanzbereich). Dafür: Rausnehmen des Systemwechsels = keine Zahlstelle, keine Meldepflicht = Steuerhinterziehungsgeheimnis im Inland wird geschützt. Dazu: Reinnehmen natürliche Personen und indirekte Anlagen (zum Beispiel Obligationenfonds). Was hat das alles mit «Geschäft der Konzernfinanzierung zurückholen» zu tun? Das kommt einer Einladung zur Steuerhinterziehung gleich. Jetzt erst sind wir dagegen.
Autsch! Und dies nur ein Beispiel für zig Ungereimtheiten.
Kosten bei normalisiertem Zins: 800 Millionen Franken – wobei 500 Millionen ins Ausland fliessen. Verheissung und Behauptung: In wenigen Jahren bereits durch höhere Steuereinnahmen kompensiert durch Zurückholen (des nun vollständig steuerbefreiten) Obligationengeschäfts. Kronzeugin: eine Studie des BAK von 2019. Methode «Expertengespräche», «eigene Überlegungen»: ungenügend – wie bereits der renommierte Prof. Marius Brülhart anmahnte. Das Geschäft mit Obligationen in der Schweiz sei zurückgegangen. Stimmt. Der Gesamtmarkt schon, aber just die Obligationen von verrechnungspflichtigen inländischen Emittenten sind um 57 Prozent gestiegen. Autsch! Und dies nur ein Beispiel für zig Ungereimtheiten.
Politics by Behauptung müsste den Medien ein Dorn im Auge sein. Ihr Job ist doch, zu recherchieren, hinter die Kulissen schauen, ihren zahlenden Abonnenten Orientierung verschaffen, damit diese sich eine Meinung bilden können. Methodisch ungenügende Studien, hinterlistiges parlamentarisches Gebaren sollten kritisch beleuchtet und endlich wissenschaftliche Evaluationen der Steuerpolitik gefordert werden. Recherchieren statt Rundumschläge.