Kolumne #Korrigendum: Über spannende Debatten, die nur scheinbar stattfinden – Zum Klimaseniorinnen-Urteil des EGMR
9. Juni 2024Kolumne #Korrigendum publiziert in der Sonntagszeitung 9.6.2024
Über spannende Debatten, die nur scheinbar stattfinden
Bei der Diskussion um das Klimaseniorinnen-Urteil würde man sich deutlich mehr Kompetenz und Besonnenheit von Politik und Medien wünschen.
Egal, welche Staatsgewalt – auch die vierte Gewalt –, wenn diese eigenmächtig ihre Kompetenzen überschreitet, gehört das eingehend debattiert und abgestellt. Nur ist das im Fall des Entscheids des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Klage der Klimaseniorinnen kaum der Fall.
Und nein, lieber «Tages-Anzeiger», die Debatte diese Woche im Ständerat war nicht gut, sondern eines Stammtischs nicht würdig. Das Zitieren von Montesquieu hob das Niveau kaum an, zumal ständig Gewaltentrennung und Gewaltenteilung – auch von den Medien – falsch verwendet und als Synonym benutzt wird. Das zeugt von wenig Staatsverständnis.
«Es ist nicht Aufgabe eines Gerichts, den Gesetzgeber zu übersteuern», wurde gesagt. Ähm, doch. Wenn der Gesetzgeber mit seinen Erlassen die Menschenrechte verletzt, können nicht nur, sondern müssen Gerichte in einer individuell-konkreten Normenkontrolle korrigierend wirken. Genau das ist ihre Kernaufgabe. Die Gerichte erlassen ja selbst keine neuen Gesetze und sagen auch nicht, wie sie geändert werden sollen. Sondern sie befinden, dass Erlasse oder Unterlassungen im Bereich der staatlichen Schutzpflicht mit den Grundrechten kollidieren. In diesem Fall gegenüber dem Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (bei uns in Art. 10 der Bundesverfassung verankert). Und das tun sie seit Jahrzehnten. Um eines von Hunderten Beispielen zu nennen: Ein Urteil des EGMR zur Prügelstrafe in Grossbritannien hatte ein Verbot an öffentlichen Schulen zur Folge.
Respektlos gegenüber den demokratischen Prozessen
Der EGMR würde die demokratischen Prozesse nicht respektieren. Auch das ist kreuzfalsch. Im Gegenteil, er stützt die Demokratie, indem er prüft, ob die demokratisch beschlossenen Massnahmen auch umgesetzt wurden. Und das ist gut so. Denn ständig Absenkpfade beschliessen – seien es CO₂, Pestizide oder Zweitwohnungen –, um danach keine Massnahmen folgen zu lassen, ist ein üblicher Trick von Mitte-rechts und gehört abgestellt. Denn das ist respektlos gegenüber den demokratischen Prozessen.
Sodann habe «der EGMR die Grenzen der Rechtsfortentwicklung überstrapaziert». Hallo? Es ist das Wesen der Menschenrechte, dass sie im Lichte der gesellschaftlichen Bedingungen interpretiert werden müssen: Kulturelle und technische Veränderungen sowie neue wissenschaftliche Erkenntnisse müssen zur Auslegung herangezogen werden. Der EGMR habe sich starr an die Buchstaben der Menschenrechtskonvention zu halten. Solch reaktionäres Gedankengut hat eigentlich nichts in einem liberalen freiheitlichen Rechtsstaat zu suchen.
Es wurde behauptet, es gäbe kein «Recht auf Umweltschutz». Das ist zwar nach Buchstaben Menschenrechtskonvention richtig. Aber darum geht es hier nicht. Die Grundrechte schützen die körperliche Unversehrtheit von Menschen. In langjähriger Gerichtspraxis sowohl der Verfassungsgerichte der Mitgliedsländer als auch des EGMR werden direktbetroffene Menschen geschützt vor beispielsweise giftigen Emissionen von Fabriken. In den letzten Jahren haben drei Verfassungsgerichte der Mitgliedsländer Niederlande, Deutschland und Frankreich gestützt auf dem Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit den Gesetzgeber zu weiteren Massnahmen im Klimaschutz verpflichtet. Der EGMR-Entscheid ist eine logische Fortentwicklung auf die neue Bedrohungslage, wissenschaftliche Erkenntnisse und die Selbstverpflichtung der jeweiligen Gesetzgeber, Massnahmen zu ergreifen. Das Neue daran ist, dass erstmals die Quelle der Bedrohung nicht aus einer einzigen stammt und nicht aus dem Nahbereich.
Dieses Urteil schreit nach einer fundierten Debatte, die nicht stattfindet
In diesem Zusammenhang wurde in der Ständeratsdebatte auch die positive Wirkung der Grundrechte angezweifelt. Das heisst, Grundrechte schützen nicht nur vor Übergriffen des Staats, sondern auch vor Grundrechte verletzenden Tätigkeiten Privater, wenn der Staat nicht in angemessener und zumutbarer Weise das Notwendige unternimmt, um den Schaden zu mindern oder zu verhindern. «Unterlassen» heisst es. Das lernt man schon im ersten Semester Verfassungsrecht. Berühmtes Beispiel ist ein Fall aus der Türkei, bei dem der Staat keine Massnahmen ergriff, um häusliche Gewalt einzudämmen. Daraus entstand dann die Istanbul-Konvention.
Ebenso wie Gerichte sich an klare Prüfkriterien zu halten haben (der EGMR hat extrem sorgfältig geprüft, lesen Sie das Urteil!) und nicht irgendetwas tun dürfen, sind Parlamente durch Verfassung und Grundrechte in ihrem Wirkungsbereich beschränkt. Dass Gerichte prüfen, ob Erlasse oder Unterlassungen die Grundrechte verletzen, gehört zum Kerngehalt der Checks and Balances in modernen Rechtsstaaten. Dieses Urteil schreit nach einer fundierten Debatte, die nicht stattfindet.
Bei der fundamentalen Bedeutung sowohl des Klimaschutzes als auch der Menschenrechte würde man sich deutlich mehr Kompetenz und Besonnenheit von Politik und Medien wünschen. Noch vor einigen Jahren wäre die NZZ federführend gewesen in der Erörterung dieser fundamentalen Institution. Schade, sind diese Zeiten vorbei.