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Das Geschwätz vom unbezahlbaren Sozialstaat

Publiziert in der «Schweiz am Sonntag» am 11. Januar 2015

als Repilik auf: http://www.batz.ch/2014/12/sozialstaat-und-anstand/       Text von HSG-Professorin Monika Bütler in der «Schweiz am Sonntag» vom 28.12.2014

In der Sozialhilfe soll weder Geld zum Fenster hinausgeworfen werden noch sollen Fehlanreize bestehen. Arbeit soll sich lohnen. Kein Zweifel. Wir möchten eine Leistungsgesellschaft sein. Die Finanzierbarkeit unseres Sozialsystems gehört aber gewiss nicht zu den grossen Fragen unserer Zeit (wie das die Schweiz am Sonntag darstellt). Die Antwort darauf als «tickende Anstandsbombe im Sozialsystem» zu betiteln, wie es Monika Bütler in der «Schweiz am Sonntag» getan hat, ist bestenfalls knalliges Geschwätz.

Die angeblich gefährdete Finanzierbarkeit unserer Sozialwerke ist keine «tickende Zeitbombe». Vielmehr ist es eine tickende Politbombe, Nebenschauplätze ins Zentrum der Debatte zu rücken. Zumal die tickende Anstandsbombe, wohl eher in immer schamloser werdenden Steuervermeidungsstrategien von Grosskonzernen und Superreichen zu finden ist, die volkswirtschaftlich und gesellschaftlich wesentlich bedeutungsvoller sind.

Im Lichte der neu entfachten – NZZ sei Dank –, dringend zu führenden Liberalismus-Debatte wäre besser zu fragen: «Können wir uns keine soziale Sicherung leisten?» Denn Sozialsysteme sind nicht nur aus ökonomischen Gründen wesentlich, weil sie Kaufkraft und Nachfrage sichern, die immerhin gut 60 Prozent unseres Bruttoinlandproduktes ausmachen. Sie sind Bestandteil unseres Gesellschaftsvertrags zwischen Jungen und Alten sowie zwischen Starken und Schwachen.

Vor allem aber sind sie zwingende Grundlage unseres bürgerlich-liberalen Systems. Eine auf Freiheit basierende Gesellschaftsordnung verlangt verschiedene Formen der Freiheit. Erstens die Freiheit als kollektive Unabhängigkeit eines Gemeinwesens nach aussen. Dies sagt jedoch nichts aus über die Freiheit im Innern, kann die Unabhängigkeit doch im Prinzip auch durch lokale Despoten gesichert werden. Deshalb ist es Voraussetzung, dass Individuen über politische Freiheits- und Mitbestimmungsrechte verfügen. Zweitens die Freiheit als freie Bestimmung des individuellen Willens, eines der schwierigsten philosophischen Probleme überhaupt. Und schliesslich drittens: die Freiheit als politische und soziale Unabhängigkeit des Individuums.

Die negative Freiheit meint die Abwesenheit von politischem und sozialem Zwang durch Andere – vor allem des Staats. Diese wird durch die Freiheitsrechte wie Meinungsäusserungsfreiheit, Eigentumsgarantie, Vertragsfreiheit usw. garantiert. Die positive politische und soziale Freiheit steht für die vernünftige Selbstbestimmung des Individuums. Recht, Staat und Gesellschaft haben demnach Bedingungen zu schaffen, wonach jeder Herr seines je eigenen Lebens werden und Ziele verfolgen kann, die er frei gewählt hat. Und zwar unabhängig vom Status seiner Vor- und Nachteile durch Geburt – hier das bürgerliche Element.

Dies bedeutet im Konkreten Zugang zu Chancen und Bildung. Dazu gehören eine materielle Absicherung und Grundausstattung, so dass jedes Individuum die Realisierung seiner je eigenen Lebenspläne tatsächlich wahrnehmen kann. Diese materielle Grundausstattung garantiert unser soziales Sicherungssystem und zwar so, dass sich Individuen der Einschränkung ihrer Freiheit durch zum Beispiel Ausbeutung entziehen können und ihre Handlungsoptionen bezüglich (Arbeits-)Vertragsfreiheit wahren können. Dahinter steht die Grundüberzeugung, dass grundsätzlich die Abwesenheit von sozialem Zwang die Wahrnehmung von individueller Freiheit überhaupt erst ermöglicht. Darin sind sich alle grossen liberalen Denker von Mill, Bentham über Rawls bis hin zu Hayek einig.

Unsere Verfassung beschreibt es in der Präambel so: «…gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht». Eine freiheitliche Gesellschaftsordnung kann sich demnach nicht leisten, kein soziales Sicherungssystem zu haben, das diesen Namen auch verdient. In Zeiten des Sozialabbaus, wo Erwerbslose und Behinderte verbissen in die Sozialhilfe abgeschoben werden, wo stossende Einzelfälle als «Sozial-Irrsinn» schamlos vom Kampagnen-Journalismus skandalisiert werden, ist es nötiger denn je, sich an unseren Freiheitsbegriff zu erinnern.

So gesehen ist ein Disput um 200 Franken mehr oder weniger Sozialhilfe für die Betroffenen zwar entscheidend aber für unsere Volkswirtschaft ein Nebenschauplatz. Die Entscheidung kann unter der Vorgabe einer würdigen materiellen Absicherung und korrekter Anreize getrost den Experten überlassen werden. Unser soziales Sicherungssystem legitimiert sich alleine durch unsere liberale Gesellschaftsordnung. Dazu braucht es nicht einmal Gerechtigkeitsüberlegungen. Angesichts der neuerlichen (globalen) Vermögenskonzentration in den Händen ein paar Weniger, die Ausmasse annehmen wie in den feudalen Jahrhunderten vor der bürgerlichen Revolution, drängt sich hingegen die Frage auf, wie sich solche Vermögenszuwächse legitimieren. Woher kommen diese Vermögen? Sind diese Vermögen verdient? Leben wir noch in einer Leistungsgesellschaft? Und wenn nicht, wie funktioniert Umverteilung von unten nach oben? In einer liberal sein wollenden Gesellschaft sind das sind die brennenden Zukunftsfragen, auf die weit und breit keine Antworten zu finden sind.