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Jacqueline BadranNationalrätin SP und ihr Blog über Politik und Pinguine
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Beitrag publiziert im P.S. am 16. 7. 2021

Im Rahmen einer Reihe zum Verhältnis Schweiz -EU

https://www.pszeitung.ch/hochlohnpolitik-als-kernauftrag-der-sozialdemokratie/#top

 

Hochlohnpolitik als Kernauftrag der Sozialdemokratie

Das Verhältnis zwischen Schweiz und EU bewegt – auch die SP. In einer Diskussionsreihe soll das Thema von verschiedenen Seiten und verschiedenen Stimmen beleuchtet werden. Hier folgt der zweite Beitrag von SP-Nationalrätin Jacqueline Badran.

 

Jacqueline Badran

Wir sollten dringend als erstes die Konfliktlinien klären. Das war einer meiner Appelle im ersten Teil meiner Diskussionsbeiträge zum Verhältnis Schweiz und EU. Ich beschrieb als eine der grossen Konfliktlinien des 21 Jahrhunderts das Problem, wie wir in der global intensiven Arbeitsteilung eine Wirtschaftsordnung gestalten können, die ohne Ausbeutung von Mensch und Umwelt auskommt. Eine Wirtschaftsordnung, in der das Kapital den Menschen dient und nicht umgekehrt. Und hier spielt (schon immer) die Entlöhnung der beiden Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit die entscheidende Rolle.

Auf dem Weg, eine tragbare neue Lösung für die institutionelle Frage zu finden, habe ich ebenso dafür plädiert, dass es hilfreich wäre zu verstehen, wieso das institutionelle Rahmenabkommen (Insta) aus guten Gründen gescheitert ist. Im Rahmen der Debatte zum Insta wurde die klare und konsequente Haltung der SP zum sogenannten «Lohnschutz» zum grossen Streitpunkt stilisiert. Die Gewerkschaften und die SP sollen gefälligst nicht auf stur schalten, weil sie sonst das Rahmenabkommen gefährde. SP-interne Stimmen forderten gar, die SP habe sich von den Gewerkschaften zu distanzieren. Um herauszufinden, ob diese Kritik berechtigt ist, müssen wir in der Geschichte zurückblättern.

Das grosse sozialdemokratische Jahrhundert

Das letzte Jahrhundert wird zu Recht als das grosse sozialdemokratische Jahrhundert bezeichnet. In der Nachkriegsära konnten SP und Gewerkschaften (aus verschiedenen Gründen) endlich das realisieren, was sie Jahrzehnte zuvor gefordert hatten: Den Aufbau der Sozialwerke und vor allem eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik auf der Basis von höheren Löhnen und wirtschaftlicher Teilhabe von allen. Der grosse Deal zwischen Eigentümern und Lohnabhängigen war dieser: Eine Beschränkung der Rendite auf der einen Seite kombiniert mit einer Hochlohnpolitik; auf der anderen Seite eine ordentliche Portion Protektionismus gegen aus- und inländische Konkurrenz. Damit einher ging eine tiefe Besteuerung von Arbeit und Konsum sowie ein ausgeprägter Schutz der Mieten als grösster Kostenfaktor für die Arbeitenden. Gedanklicher Hintergrund war (unter anderem) die gereifte Einsicht, dass die Arbeitenden so viel zu verdienen hatten und möglichst geringe Fixkosten hatten, sodass sie die von ihnen erzeugten Produkte und Dienstleistungen auch selber kaufen konnten. Soziologen nennen dies «das grosse Teilhabeprojekt» – jedem sein Kühlschrank, jeder ihr Volkswagen. Das war der Beginn eines beispiellosen Siegeszugs der Arbeit in den neuen westlichen demokratischen Rechtsstaaten. Fortan gingen alle Produktivitätsgewinne an den Produktionsfaktor Arbeit in Form von höheren Löhnen und tieferen Arbeitszeiten. Es waren DIE Rahmenbedingungen, DER grosse Deal für den sagenhaften «Aufstieg der Mittelschicht», in der Massenkaufkraft geschaffen wurde, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte und die über Jahrzehnte zu riesigen Wachstumsraten führten. Es war die Wirtschaftspolitik der Sozialdemokraten gemeinsam mit den Gewerkschaften, die erst den sogenannten «Mittelstand» geschaffen hatten, den heute andere Parteien für sich proklamieren. Die Hochlohnpolitik war, ist und bleibt ein Kernauftrag der SP und der Gewerkschaften gleichermassen.

Nun hat sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks (und damit der zähmenden Wirkung des Kommunismus auf den Kapitalismus) die Sache um 180 Grad gedreht. Seit den 90er-Jahren erleben wir einen Siegeszug des Kapitals: Die Renditen explodieren, Löhne stagnieren, die frei verfügbaren Einkommen sinken sogar, Kapital wird steuerlich subventioniert, Arbeit und Konsum hingegen belastet, die Mieten explodieren. In der westlichen Welt sind wir erstmals mit einer Generation konfrontiert, die nicht glaubt, dass ihre Kinder «es einmal besser haben werden».  Die Wachstumsschwäche in Europa und den USA ist eine Schwäche des Binnenmarktes. Rund 60% des Bruttoinlandproduktes von exportorientierten Ländern wie der Schweiz oder Deutschland stammen aus dem Konsum der privaten Haushalte. Eine geringere Entlöhnung des Produktionsfaktors Arbeit, also Kaufkraftverlust, heisst deshalb immer Schwächung der Volkswirtschaften. Genau diese Entwicklung, diese Perspektivenlosigkeit von Hunderten Millionen von Menschen, geprägt von Verlustängsten aller Art, sind es, die massgeblich an Symptomen wie Brexit, Gelbwesten und dem Aufstieg rechtsnationaler Strömungen beteiligt ist.

Wer die immanente Bedeutung der Hochlohnpolitik für unsere Volkswirtschaften, für die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften nicht sieht, ist entweder naiv oder ignorant, ganz sicher aber geschichtsvergessen.

Ist Lohnschutz protektionistisch?

Weiter wird argumentiert, die EU habe doch auch eine neue Richtlinie «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». Man müsse deshalb den Forderungen der EU, wie der Lohnschutz konkret auszugestalten sei, nachgeben.  Zum Beispiel die Voranmeldefrist mit Kautionspflicht für entsendete Arbeitende von vier statt acht Tagen sei doch problemlos. Die Beschleunigung könne man doch auch mit einer App lösen, wie die GLP pausenlos wiederholte, man müsse doch nicht so dumm tun.

Wer wie die EU Lohnschutz autoritär im operativen Detail regelt, muss sehr guter Grund dafür haben. Als guter Grund wird aufgeführt, man wolle eben verhindern, dass Lohnschutz unverhältnismässig und protektionistisch sei. Nur: Die Unterstellung, der Lohnschutz, wie wir ihn ausgestaltet haben ,sei protektionistisch, ist komplett verfehlt. Denn es gibt tatsächlich etwas zu beschützen, nämlich unsere Löhne, die Löhne der entsendeten Personen und unsere Arbeitsplätze. Denn Lohnschutz ist immer auch Auftragsschutz. Wie bitte soll inländisches Gewerbe wie ein Küchenbauer, eine Film-Equipe, ein IT-Unternehmen überleben können, wenn ihre Konkurrenz Personen entsendet, die nicht einmal ein Drittel der hiesigen Löhne beziehen? So war denn auch ein wesentlicher Streitpunkt bei den Insta-Verhandlungen, was denn bei den «gleichen Löhnen» die Vergleichsbasis ist. Die EU-Kommission hatte den Standpunkt, die Spesen, die eine entsendete Person für ihren Aufenthalt in der Schweiz bekomme, seien ein Lohnbestandteil. Eine Kamerafrau, die aus Deutschland entsendet wird, um einen Werbefilm an der Limmat zu drehen und 2000 Euro pro Monat bekommt, sowie 150 Euro Spesenpauschale pro Tag für Essen und Hotelübernachtung, würde gemäss EU einen «Lohn» von 2000 Euro plus 20×150 Euro, also 5000 Euro beziehen. Das ist absurd. Schliesslich sind Spesen eben kein Lohnbestandteil. Zudem muss die so entsandte Kamerafrau ihre Wohnung in Deutschland ja immer noch bezahlen.

Das ist der zweite Grund, weshalb der Protektionismus-Vorwurf verfehlt ist. Dahinter steht nämlich ein umfassender Wettbewerbsgedanke, wonach Lohnunterbietung ein Bestandteil des Wettbewerbs ist. Das ist aber grundsätzlich falsch und ein Konstruktionsfehler. Denn erst gleiche Löhne für gleiche Arbeit schaffen gleich lange Spiesse und somit Wettbewerbsneutralität.

Vergessen wir nicht, dass wir nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zum Lohnschutz haben. Das Freizügigkeitsabkommen verpflichtet uns in Art.1, den EU-Bürgerinnen die «gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer» zu gewährleisten. Dies tun wir auch mit der historischen Errungenschaft der Gewerkschaften und der SP: den flankierenden Massnahmen. Das heisst unter anderem die von der EU beanstandete hohe Kontrolldichte sowie Voranmeldefristen mit Kautionspflicht (um gegen die Scheinfirmenbildung vorzugehen und allfällige Bussen auch effektiv eintreiben zu können). Und tatsächlich, die Missbrauchsquote, die durch Kontrollen aufgedeckt wird, beläuft sich auf extrem hohe 18 Prozent (bei Schweizer Firmen sind es sogar 30 Prozent). Man stelle sich einmal vor, wie krass das Lohndumping wäre, gäbe es die präventive Wirkung der Kautionspflicht kombiniert mit der hohen Kontrolldichte nicht. Das Wesentliche an der von der EU als unverhältnismässig und protektionistisch bezeichneten sozialpartnerschaftlichen Umsetzung der Lohngleichheit ist eben die Kontrolle selbst. In der EU ist die Kontrolldichte um ein Vielfaches geringer. Dort überlässt man die Durchsetzung quasi den Beschäftigten selber: Sie sollen klagen und vor Gericht gehen. Nur wissen die Betroffenen selten, dass sie über den Tisch gezogen werden und ihre Löhne faktisch illegal sind; und wenn sie es wissen, haben sie Angst zu klagen und so ihren Job zu riskieren. Kommt hinzu, dass solche Klagen viel Wissen verlangen, teuer und langwierig sind. Kurz: Das ist eine wirkungslose Zumutung. Das haben Roland Erne und Andreas Gross in einem Gastbeitrag «Das Lohnschutzargument ‹Recht haben› und ‹recht bekommen› ist nicht das Gleiche» schön beschrieben. Sie argumentieren, das Prinzip der Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen (gilt in der EU seit 1957, in CH seit 1996) werde kaum durchgesetzt. Nur einige Hundert Frauen pro Jahr wagen es, die Lohnungleichheit einzuklagen – aus Angst vor möglichen Repressalien (oder weil sie nicht wissen, dass sie diskriminiert werden). Zu Recht verlangt die Frauenbewegung seit Jahrzehnten Transparenz und automatische Kontrollen. Sonst bleiben Verfassungen und Gesetze Papiertiger.

 

Der Lohnschutz braucht Kontrollen und Durchsetzung

Dass der bisherige Lohnschutz in der EU nicht ausreichte, wurde auch dort bemerkt. Schliesslich gibt es die neue Richtlinie für gleichen Lohn am gleichen Ort. Nur bei der Umsetzung haperts. Erstens ist eben die Kontrolldichte viel zu gering; Kautionen und damit durchsetzbare Sanktionen gibt es kaum. Zudem ist der Geltungsbereich sehr eingeschränkt. Zum Beispiel gilt die Richtlinie nicht für Werk- und Leiharbeitsverträge.  Nun ist es aber so, dass 30 Prozent der deutschen Beschäftigten in sogenannt «atypischen Vertragsverhältnissen» arbeiten – also in eben diesen Werk- und Leihverträge. Zudem arbeitet ein Fünftel der Beschäftigten unter dem jetzt vorgeschlagenen Minimallohn. DAS ist das Ergebnis von Lohndumping in grossen Stil. So sind denn auch die Gesamtarbeits-Verträge (als Basis für den Geltungsbereich des EU-Lohnschutzes) und die Sozialpartnerschaft in Deutschland im freien Sinkflug. Gleiches gilt für fast alle EU-Länder (ausser Frankreich), insbesondere für das vormalige Mitglied England. Nur in der Schweiz sind sie, den Flankierenden Massnahmen sei Dank, gestiegen.

Und so stellt sich schon die fundamentale Frage: Wenn die EU und die Schweiz das gleiche Ziel verfolgen, nämlich «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort», wieso will die EU die Details der Umsetzung dieser Zielsetzung regeln? Insbesondere dann, wenn doch unsere wirkungsvoll, diejenige der EU aber recht wirkungslos sind? Wäre es nicht vielmehr angebracht, diese Umsetzung den einzelnen Ländern zu überlassen, die kontextuell andere Situationen haben? Kann es sein, dass Lohnunterschiede, ja der Wettbewerb via Tieflöhne gewollt ist? So wie das der europäische Gerichtshof mehrfach gesagt hat und im EU-, sowie WTO-Recht angelegt ist? Wir werden die Entwicklungen bei der Umsetzung der neuen Richtlinie und die EuGh-Rechtssprechung sehr genau beobachten müssen.

Nochmals: Die grosse Konfliktlinie des globalisierten Jahrhunderts ist die Ausgestaltung einer Wirtschaftsordnung, die ohne Ausbeutung und Umweltbelastung auskommt. Fakt ist: Die EU braucht mehr Lohnschutz, nicht wir weniger. Tut sie das nicht, wird sie noch grössere Fliehkräfte und noch mehr Rechtspopulismus hinnehmen müssen. Idealerweise arbeiten wir gemeinsam daran, den Produktionsfaktor Arbeit wieder besser zu entlöhnen und streiten nicht um Anmeldefristen. Die Welt braucht keinen Wettbewerb, wo derjenige den Vorteil hat, der besser Lohn- und Umweltdumping betreibt. Insofern war es und bleibt es Daseinsberechtigung und Kernauftrag der SP und der Gewerkschaften, unsere Art der effektiven Umsetzung gegen Lohndumping bis aufs Letzte zu verteidigen. Und nicht etwa «dumm und stur tun».

Die Hochlohnpolitik ist nicht nur aus Gerechtigkeitsüberlegungen oder aus sozialpolitischer Sicht entscheidend. Vielmehr ist diese sozialdemokratische und gewerkschaftliche Wirtschaftspolitik ein entscheidender Baustein für prosperierende Volkswirtschaften für alle und das vergangene und künftige Erfolgsmodell einer europäischen und globalen Wirtschaftsordnung.