Kolumne #Korrigendum: Wer kontrolliert die Kontrolleure?
3. September 2022Kolumne #Korrigendum
publiziert in der Sonntagszeitung
3.9.2022
https://www.tagesanzeiger.ch/wer-kontrolliert-die-kontrolleure-944735637091
Wer kontrolliert die Kontrolleure?
Es gibt eine Gruppe, die noch weniger gerne kritisiert wird als wir Politikerinnen: Die Medienschaffenden. Trotzdem ist es nötig, genau hinzuschauen. Heute mehr denn je.
Ohne Qualitätsmedien keine Demokratie. So weit sind wir uns alle einig. Medienschaffende müssen unbehelligt von kommerziellen oder machtsuchenden Verlegern, unabhängig von Politik oder Wirtschaftseliten arbeiten können, allein der Wahrhaftigkeit verpflichtet. Medien sind in rechtsstaatlich pluralistisch verfassten Demokratien eine essenzielle Güterklasse (neu sagt man systemrelevant).
In Autokratien und Diktaturen werden freie Medien als Erstes gesäubert oder gleich abgeschafft. Man kann Medien also nicht abwickeln oder nach Südostasien auslagern. Und wir Politikerinnen können ja schliesslich auch nicht mit dem Megafon herumlaufen, um die Menschen direkt zu informieren: Wir sind abhängig von den Massenmedien. Ihre Aufgabe ist nicht nur, die Menschen objektiv über alles Wichtige zu informieren, sondern auch, die Mächtigen zu kontrollieren. Je grösser die Wahrscheinlichkeit, dass die Mächtigen bei Machtmissbrauch erwischt werden, desto besser die Medien. Man nennt die Medien zu Recht auch «Vierte Gewalt» im Staat.
Nun wissen wir alle, dass mit dem Aufkommen des Internets das Businessmodell der Medien regelrecht vernichtet wurde. Deren Finanzierung über Kleininserate (Jobs, Wohnungen, Autos etc.), Werbung und Abonnenten ist wie Schnee an der Sonne geschmolzen. Entsprechend mussten die Medien kostenseitig massiv reagieren. Zusammenlegungen von Redaktionen, Reduktion der Inhalte, Einkauf von Artikeln im Ausland, Verkleinerung der Anzahl Journalistinnen war die Antwort. Bis die Zitrone ausgepresst war. Parallel dazu mussten sie in den Ausbau der Onlinepräsenzen investieren. Und so verschoben sich die Anreize weg von Relevanz hin in Richtung «Klicks», die Onlinewerbewährung. Neu ist das Mass der Dinge: TEM – Total Engaged Minutes.
Hinter vorgehaltener Hand gab
mir bis jetzt jede Journalistin,
jeder Journalist recht.
Diese strukturellen Disruptionen haben viele negative Auswirkungen: eine Verseichtung der Medien, eine Fokussierung auf Aufreger-Geschichten statt Relevanz, ein Untergang des Spezialisierungsgrades, eine Fixierung auf Primeure, kombiniert mit höherem Zeitdruck, weniger Zeit für sorgfältige Recherche, eine Verlegung auf kostengünstige Interviews, dafür Auslassung von ganz Wichtigem, vermehrter Unterstellungsjournalismus, eine Umkehr der Beweislast, häufiger Suggestivjournalismus und vieles mehr.
Hinter vorgehaltener Hand gab mir bis jetzt jede Journalistin, jeder Journalist recht. Manche fügen an, nicht alles sei schlechter geworden. Sie hätten dafür bessere Recherche-Möglichkeiten. Das stimmt sicher. Und das Perfide daran ist ja: Nicht die einzelnen Journalistinnen und Journalisten sind schlechter geworden, viele machen einen super Job. Aber die Strukturen, in denen sie arbeiten müssen, haben sich verschlechtert. Dieser Strukturwandel – so glaube ich zumindest – hat zu zwei Dingen geführt: deutlich mehr Fehler und Ungenauigkeit, dafür weniger gegenseitige interne und übergreifende Kontrolle durch die Medien selbst.
Deshalb stelle ich mir seit einigen Jahren täglich die Frage: Wer kontrolliert die Kontrolleure? Und deshalb mache ich diese Kolumne, vor der mir selber mulmig ist: #Korrigendum.
Mir ist bewusst, dass ich mich
äusserst unbeliebt machen werde.
Werde ich überbeissen? Vermutlich. Werde ich gemein sein? Keinesfalls absichtlich. Werde ich meine linke Brille aufhaben? Ich glaube, ich kann die Brille gut überblicken. Wird für mich ein #Korrigendum vom #Korrigendum nötig sein? Hin und wieder. Werde ich der Wahrhaftigkeit verpflichtet sein? Das ist mein Versprechen.
Mir ist bewusst, dass ich mich äusserst unbeliebt machen werde. Es gibt nämlich eine Gruppe, die noch weniger gerne kritisiert wird als wir Politikerinnen. Das sind die Medienschaffenden selbst. Nur – die Politikerinnen werden öffentlich kritisiert, die Medienschaffenden fast nie und wenn, dann fast ausschliesslich im Hintergrund. Sogenanntes «Medien-Bashing» ist verpönt. Und wenn man es dann trotzdem tut, heisst es reflexartig und immer: «Aha, jetzt sind die Medien schuld.» Aber ich mag nicht mehr still sein. Ich riskiere, dafür künftig sabotiert und ignoriert zu werden. Ist mir egal, zu allgegenwärtig und gefährlich sind die Fehler, vor allem die vermeintlich harmlosen. Und ich finde ja nur diejenigen, die meine Kernthemen betreffen.
Ist das besserwisserisch? Sicher. Ist das arrogant? Ein bisschen. Ist das hämisch? Niemals. Es ist vor allem eines: besorgt. Um unsere Demokratie.