Wohnungsnot – Auch die besonders schlauen Journalsiten fallen darauf rein – #Korrigendum
20. März 2023Kolumne: Badrans #Korrigendum
Publiziert in der Sonntagszeitung 19.3.23
https://www.tagesanzeiger.ch/auch-die-besonders-schlauen-fallen-darauf-rein-978262152688
Auch die besonders Schlauen fallen darauf herein
Etwas mehr Bildung zur Immobilienökonomik wäre nötiger denn je. Nicht nur für Journalisten.

In den letzten Wochen überschlugen sich die Schlagzeilen zur Immobilienwirtschaft: «Wohnungsnot», «Wohnmangellage», «Wohnungskrise». Auslöser war eine Studie, die schätzte, bald würden 50’000 Wohnungen fehlen. In der Folge überschlugen sich die Diagnosen, was denn alles schieflaufe, warum weniger gebaut würde.
Sogenannte Experten – allesamt im Sold der Immobilienwirtschaft – wurden von den Medien befragt, die irritationslos und willfährig wiedergaben, was diese sagten. Die Leerwohnungsziffer sei am Sinken; therapieren müsse man den Akutpatienten, indem man umgehend die Bau- und die Raumplanungsvorschriften lockert. Die Einsprachefristen gegen Bauvorhaben seien zu verkürzen, die Baubewilligungen zu beschleunigen, zudem solle man ein- und aufzonen.
Kaum jemandem fiel auf, dass zwischen 2009 und 2020 «em Tüüfel es Ohr ab» gebaut worden war wie selten zuvor. Die Leerwohnungsziffer kletterte fast auf Rekordhöhe. Und das unter den identischen Bau- und Raumplanungsvorschriften wie jetzt. Doch plötzlich sollten genau diese Vorschriften schuld sein für die leicht sinkende Leerwohnungsziffer, die immer noch weit über dem Jahrzehnteschnitt liegt.
Die ganz Schlauen, die dem Phänomen auf den Grund gehen wollten, wie beispielsweise die Radiosendung «Echo der Zeit», verbrieten vier Minuten Sendezeit mit dem «Nimby-Phänomen» (not in my backyard), wonach Menschen zwar abstrakt etwas befürworteten (z.B. Atomstrom, Handy-Antennen, Verdichtung), aber nicht vor der eigenen Haustür. Das Phänomen ist zwar bekannt und tatsächlich für viele Einsprachen gegen Endlager oder Bauvorhaben verantwortlich, es ist aber so alt wie die Menschheit und deshalb unmöglich Ursache des jetzigen Baurückgangs.
Die noch Schlaueren machten das sogenannte «Insider-Outsider-Problem» für den «Wohnungsmangel» mitverantwortlich. Die inzwischen alleinlebende Seniorin ziehe nicht aus der billigen 5-Zimmer-Wohnung aus, weil die kleinere 2-Zimmer-Wohnung viel teurer sei. Dies liege am Mietrecht, das in bestehenden Mietverhältnissen die Erhöhung der Mieten – nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage – verunmögliche. Das müsse man ändern.
Wir haben in der Schweiz aber keine Marktmiete, sondern eine Kostenmiete mit einer gedeckelten Rendite. Würde das an sich kluge Mietrecht tatsächlich durchgesetzt, wäre die Miete der 2-Zimmer-Wohnung wesentlich billiger (weil bei Wohnungswechsel nicht einfach aufgeschlagen werden darf, es aber vielfach trotzdem getan wird). Würde also das Mietrecht greifen, gäbe es gar kein Insider-Outsider-Phänomen, da die Mietpreise sich wie vorgesehen an den tatsächlichen Kosten orientieren würden.
Eine gelungenere Desinformationskampagne habe ich in der Schweiz selten beobachten können.
Es wäre ein Leichtes, herauszufinden, welche Rahmenbedingungen sich seit 2020 geändert haben. Es ist allein der gestiegene Zinssatz. Somit sind die Kapitalkosten der Immobilienunternehmen gestiegen. Das muss jetzt dringend kompensiert werden, indem die Kosten andernorts sinken (Baubeschleunigung) oder mehr Kapital auf einer Parzelle parkiert werden kann (Ein- und Aufzonungen). Ich habe nichts dagegen, die Bauvorschriften zu lockern. Da diese kantonal sind, hätten dies die Bürgerlichen seit Jahrzehnten selber in der Hand. Aber dann sollen sie ehrlich sagen, weshalb: Nicht, weil sonst weniger gebaut wird, sondern weil sie mehr Rendite wünschen.
Aber ich ziehe den Hut vor der Immobilienlobby: Eine gelungenere Desinformationskampagne habe ich in der Schweiz selten beobachten können. Wieso das funktioniert, macht mich etwas ratlos. Immerhin handelt es sich bei Boden und Liegenschaften um das mit Abstand grösste volkswirtschaftliche Gut – mit einem Verkehrswert von rund 4,4 Billionen Franken. Und die Wohnkosten sind der grösste Posten im Haushaltsbudget der meisten Leute. Zudem liegt der Anteil der Betroffenen bei 100 Prozent, denn jeder muss wohnen. Wieso ist ausgerechnet das Wissen um die Immobilienökonomie so bescheiden?
An der Universität St. Gallen hatte ich in den 90er-Jahren ein halbes Jahr lang eine wöchentliche zweistündige Vorlesung zu Bodenökonomik, weil es eine primär essenzielle Güterklasse ist, die nach besonderen Regeln funktioniert. Diese Vorlesung gibt es heute sicher nicht mehr. Nachdem die Immobilienwirtschaft unsere Wohnungen, Büros und Produktionsstätten seit Ende der 90er-Jahre in ein Anlageuniversum umgebaut hat, wäre aber Bildung zur Immobilienökonomik dringender denn je. Wir haben keinen Akutpatienten, sondern einen chronisch Kranken.